Sonderfonds Östliches Europa
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Dankesrede Katrin Lehnert

Dankesrede aus Anlass der Verleihung des Dissertationspreises des Schroubek Fonds Östliches Europa

München, 21. November 2014

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich fühle mich geehrt, heute den Schroubek-Dissertationspreis für meine Arbeit verliehen zu bekommen. Dies freut mich nicht nur deshalb, weil damit die Bedeutung meiner Arbeit für die Beziehungen zwischen den heutigen Ländern Deutschland, Tschechien und Polen gewürdigt wird. Es ehrt mich insbesondere auch deswegen, weil die Stifter Georg R. Schroubek und Barbara Schroubek bei der Einrichtung des Fonds im Jahr 2007 die Bedeutung interdisziplinärer Forschung hervorgehoben haben. Meine Dissertation entstand im Anschluss an ein interdisziplinäres Forschungsprojekt am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden. In diesem Projekt arbeitete ich als Europäische Ethnologin mit einem Historiker zusammen und habe diese Zusammenarbeit als sehr gewinnbringend für beide Seiten erlebt. Gleichzeitig stellt meine Forschung aber auch in sich den Versuch dar, die fast ausschließlich auf die Gegenwart bezogene Migrationstheorie der Sozial- und Kulturwissenschaften mit der Historischen Migrations- und Grenzforschung zu verknüpfen. Dabei habe ich festgestellt, dass die genannten Disziplinen trotz unterschiedlicher Forschungsgegenstände zu ähnlichen Ergebnissen und Theorieansätzen kommen. Ein fruchtbarer Austausch zwischen historischer und gegenwartsbezogener Migrationsforschung findet aber – zumindest in Deutschland – selten statt.

In Bezug auf die historische Alltagsforschung allgemein findet durchaus ein Austausch zwischen den Disziplinen statt: Meine Arbeit steht in der Tradition von Forschungszweigen wie der Historischen Anthropologie oder Ethnohistorie, der Mikrogeschichte und der Alltagsgeschichte. Gemeinsam ist diesen Forschungsrichtungen die Ablehnung einer Suche nach rein strukturellen Dynamiken und numerisch meßbaren Bedingungen historischer Prozesse. Dies bedeutet nicht, dass das Ziel eine Geschichte der unpolitischen Nischen und Alltage im Sinne empiristischer Beschreibungen ist. Vielmehr geht es darum, das Verhältnis zwischen alltäglichen Erfahrungen und Handlungen auf der einen Seite und den sozialen und materiellen Strukturen des Alltags auf der anderen Seite darzustellen. Eine der ersten und einflussreichsten Arbeiten in dieser Hinsicht war Carlo Ginzburgs vielbeachtete Studie „Der Käse und die Würmer“ aus dem Jahr 1976, in der er ein differenziertes Bild von der Persönlichkeit, den Lebensumständen und der Kultur, kurz der „Welt eines Müllers um 1600“ zeichnete. Während diese Sichtweise für die Geschichtswissenschaften einen provokanten Gegenentwurf zur traditionellen „Geschichte von oben“ darstellte, gehört die Erforschung der „kleinen Leute“ in der Volkskunde zum programmatischen Entwurf. In der Mikrogeschichte oder Historischen Anthropologie wird zusätzlich versucht, den Gegensatz Struktur versus agency aufzubrechen. In meiner Forschung bedeutet dies insbesondere, den Zusammenhang zwischen der alltäglichen Mobilität der Bevölkerung und der Ausbildung eines staatlichen Grenzregimes aufzudecken. Die Grenzpolitik beurteile ich dabei nicht allein als „von oben“ gesetzt und die Praktiken der Bevölkerung nicht zwangsläufig als Widerstand „von unten“. Vielmehr geht es mir insbesondere um die Punkte, an denen „oben“ und „unten“ ineinander greifen, beispielsweise indem grenzüberschreitende Mobilität gewollt oder ungewollt die staatliche Grenzpolitik beeinflusste. Der „Eigensinn der Akteure“ wird hier weiter gedacht zu einer „Autonomie des Alltags“. So konnte ich zeigen, dass die alltägliche Mobilität im Grenzgebiet zwischen Sachsen, Böhmen und Schlesien zu einer autonomen gesellschaftlichen Kraft wurde, die in einem Interaktionsprozess mit makropolitischen Diskursen und Entwicklungen des 19. Jahrhunderts stand. Beispielsweise hatte der Schmuggel über die sächsisch-böhmische Grenze maßgeblichen Einfluss auf die Grenzverhandlungen zwischen den Regierungen Sachsens und Österreichs. Umgekehrt waren die Zollbeamten die ersten sächsischen Grenzschützer und hatten die Aufgabe, der Bevölkerung die Etablierung der Staatsgrenze als nationale Scheidelinie plausibel und verständlich zu machen. Denn die Menschen im Grenzgebiet hatten keinen „natürlichen“ Respekt vor der Staatsgrenze. Einzelfälle zeigen, dass auch empfindliche Strafen die Bevölkerung nicht vom Grenzübertritt abhielten – sei es zur Arbeitssuche oder zum Besuch des nächsten Wirtshauses.

Staatliche Instanzen versuchten, diese Mobilität in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Im Gegensatz zu heute wusste die Grenzbevölkerung des 19. Jahrhunderts aber häufig nicht, welche Staatsangehörigkeit sie besaß oder wo genau die Staatsgrenze verlief. Vielmehr war der Grenzraum zwischen Sachsen, Böhmen und Schlesien ein einheitlicher Wirtschafts- und Sozialraum mit grenzüberschreitenden Beziehungen zu Familienangehörigen, Freunden und Kolleginnen. Neben der Zoll- und Staatsgrenze spielten vormoderne Grenzen weiterhin eine Rolle, wie die lokalen Grenzen eines Dorfes oder einer Pfarrei, die konfessionelle Grenze zwischen Protestanten und Katholiken, soziale Grenzen innerhalb der lokalen Bevölkerung oder die weiter südlich verlaufende Sprachgrenze. Unterschiedliche Beurteilungen dieser Grenzen führten zu gesellschaftlichen Konflikten, die Andrea Komlosy als „Auseinandersetzungen um Raum-Macht und Grenzziehungs-Macht“ bezeichnet.

Die Beschreibung dieser Konflikte und Raumvorstellungen stellt zugleich die Prämissen der Migrationsforschung in Frage. Denn diese geht meist davon aus, dass Menschen im Moment der Überschreitung einer Staatsgrenze „entwurzelt“ und zu „Fremden“ werden. Wie sieht dies aber aus, wenn Menschen aus einem Ort lediglich ins Nachbardorf auf der anderen Seite der Staatsgrenze ziehen? Oder wenn sie, wie viele Menschen auf Arbeitssuche, nur temporär mobil waren?

Meine Forschung, die von Anfang des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts reicht, hat gezeigt, dass die Frage nach der „Fremdheit“ anderer Staatsangehöriger nur situativ beantwortet werden kann. Beispielsweise stießen in Sachsen Ende des 19. Jahrhunderts deutschsprachige Böhmen von der anderen Seite der Grenze auf größere Ablehnung und eine stärkere Ethnisierung als italienische Arbeitskräfte. Der Grund dafür war, dass die italienischen Arbeiter/innen hochspezialisierte Facharbeitskräfte waren, die im Gegensatz zu den böhmischen keine ökonomische Konkurrenz darstellten. Die deutschsprachigen Böhmen wurden in dieser Situation „tschechisiert“, was erst möglich wurde vor dem Hintergrund einer nationalen Rhetorik. Diese beschwor um 1900 von Preußen ausgehend ein „west-östliches Kulturgefälle“ und einen antislawischen Diskurs. Dieser fruchtete aber nur punktuell. Keineswegs fremd war sich beispielsweise die Bevölkerung in einem von mir untersuchten Dorf – dem ehemaligen Ullersdorf (heute Kopaczów in Polen und Oldřichov na Hranicích in Tschechien) –, das Mitte des 19. Jahrhunderts der Länge nach zwischen Sachsen und Österreich geteilt wurde. Sein oberer Dorfweg wurde selbst in der Tschechoslowakei noch gemeinschaftlich benutzt und tschechoslowakische Kinder besuchten bis ins Jahr 1934 sächsische Schulen.

Die Entstehung meiner Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die große Unterstützung, die ich von verschiedenen Seiten erfahren habe, an erster Stelle durch meine Betreuerin Irene Götz. Ihr möchte ich an dieser Stelle von ganzem Herzen danken: Ich bin dankbar für ihre unermüdliche Begeisterung für mein Thema, ihre offene Kritik und ihre schlauen Gedanken; insbesondere aber auch für die keineswegs selbstverständliche persönliche und emotionale Unterstützung, für die sie sich immer Zeit genommen hat. Sie hat nicht nur meine Hochs und Tiefs geduldig mitgetragen, sondern immer auch Verständnis für die finanziellen Nöte und die Alltagsprobleme einer Doktorandin gehabt. Danken möchte ich auch meinem Zweitgutachter Manfred Seifert, der heute leider nicht hier sein kann und mich insbesondere in der Anfangsphase meiner Dissertation begleitet hat. Manfred Seifert war mein Chef im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. Dort wurde mir ermöglicht, in einem anregenden regionalwissenschaftlichen Umfeld meine Quellenrecherche und Quellenerhebung in sächsischen Archiven durchzuführen. Ganz besonders danke ich aber heute dem Schroubek Fonds Östliches Europa für die Anerkennung und Auszeichnung meiner Arbeit. Bereits mit einem 10-monatigen Abschluss-Stipendium hat mich der Schroubek-Fonds großzügig gefördert. Auf Fachtagungen und in Kolloquien hatte ich seitdem mehrmals die Gelegenheit, mich mit Herrn Professor Roth und anderen Mitgliedern des Kuratoriums inhaltlich auszutauschen, was mir wichtige Impulse für meine Forschung gab. Umso mehr fühle ich mich durch den Preis in meiner Arbeit bestärkt. Das Preisgeld ermöglicht mir, neben der Drucklegung meiner gesamten Dissertation durch das Dresdner Institut, einen Ausschnitt daraus zusätzlich im Campus-Verlag zu veröffentlichen, und zwar in der unter anderem von Irene Götz und Manfred Seifert herausgegebenen Reihe „Arbeit und Alltag“. Auch dafür herzlichen Dank.