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Laudatio für Katrin Lehnert: Prof. Dr. Irene Götz

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Roth, liebe Katrin Lehnert,

Es ist für eine Doktorbetreuerin, oder altmodischer, die Doktormutter, ein besonders aufregender und berührender Moment der Freude, die Lobesrede auf eine herausragende ehemalige Doktorandin halten zu dürfen, deren Projekt und Vita sie einige Jahre begleitet hat. Nachdem ich Katrin Lehnerts kluge Magisterarbeit (über den „Sozialschmarotzer“ als modernen Antihelden der Leistungsgesellschaft) noch an der Humboldt Universität zu Berlin betreut hatte, folgte sie mir 2007 als Doktorandin nach München und gelangte zugleich für zwei Jahre auf eine Mitarbeiterstelle am „Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V.“ in Dresden. Dort hatte sie bei dem Projektleiter Manfred Seifert in einem volkskundlich-historischen Forschungsprojekt über „Einwanderung im Grenzraum Sachsen, Böhmen und Schlesien während des 19. Jahrhunderts“ in gewisser Hinsicht ideale Arbeitsbedingungen für ihre einschlägige Quellensuche: Ich kann mich noch an viele Telefonate und Gespräche erinnern, als Katrin Lehnert nach wochenlangen Archivrecherchen, mit einer Fülle an Archivalien wieder ans Tageslicht kam, sich zunächst noch etwas ratlos fragend, was denn nun mit all den Puzzlesteinen anzufangen sei. Mit großer Offenheit und zunehmend treffsicherem Spürsinn hatte sie etwa zwei Jahre lang alle nur denkbaren Quellenarten in fast allen nur denkbaren Archiven der Region zusammengetragen, die aus verschiedenen Perspektiven Auskunft über die vielfältigen Arbeits- und Lebensweisen im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet geben.

Ausgewertet von ihr wurden beispielsweise Presseartikel aus verschiedenen Lokalzeitungen, Dienstbücher der Grenzpolizei, Gesindezeugnisbücher, autobiografisches Material und Bellestristik, Statistiken, Gesetzestexte, Gerichtsakten und Pfarrberichte. Einen Großteil der Quellen bildeten Schriftwechsel zwischen administrativen Behörden und ihren Unterbehörden, oder zwischen den Behörden benachbarter Staaten. Katrin Lehnert verfolgte zunächst das Ziel, unterschiedlichste Stimmen wie die von politischen, kirchlichen und ökonomischen Akteuren, von Grenzbeamten und aus den verschiedenen sozialen Schichten, einzufangen.

Katrin Lehnert gelang das analytisch hochanspruchsvolle Kunststück, aus den zunächst mit großer Akribie recherchierten, aber disparaten Funden dann nach und nach, im Sinne einer „gegenstandsorientierten Theoriebildung“ induktiv Kategorien zu entwickeln und die Fragestellungen ihrer Dissertation zuzuspitzen. In gewisser Weise erinnert diese Vorgehensweise auch an die alte „Münchner Schule“ – die „exakte“ Phänomenologie der historisch-archivalischen Forschung Hans Mosers und Karl-Sigismund Kramers, die hier neu belebt wird.

Der Titel ihrer Studie verrät diese Zuspitzung und den theoretischen Gehalt, der sich allmählich herausschälte: „Weder sesshaft noch migrantisch. Alltagsmobilität ländlicher Unterschichten und die Genese eines modernen Grenzregimes im 19. Jahrhundert“. Es geht demnach nicht mehr – wie meist in der historischen Migrationsforschung – um Einwanderung als ein mehr oder weniger einmalig gedachter Akt der Überschreitung einer fixen Landesgrenze, sondern um bislang noch weniger beachtete Formen nahräumlicher und zirkulärer Pendel-Mobilität im Alltag von unterbürgerlichen Schichten im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet des 19. Jahrhunderts. Diesen Raum auch quellenmäßig für die Alltagsforschung erschließbar gemacht zu haben, ist ein Verdienst Katrin Lehnerts.

Im Fokus ihrer Mikrostudie steht der sogenannte Zittauer Zipfel in der Oberlausitz des 19. Jahrhunderts. Dieses heutige Dreiländereck zwischen Sachsen, Polen und Tschechien bildete damals einen Raum mannigfaltiger konfessioneller, sozialer und ethnisch-kultureller Austauschbeziehungen (wobei die Sprachgrenze weiter südlich verlief und der untersuchte Grenzraum deutschsprachig war). Doch hier verliefen im 19. Jahrhundert die Grenzen zwischen dem – überwiegend protestantischen – Land Sachsen, der preußischen Provinz Schlesien und dem katholischen Böhmen, das zu Österreich-Ungarn gehörte. Nach 1871 trennten Sachsen als Teil des deutschen Reiches und Böhmen nationalstaatliche Außengrenzen; und im neuen Nationalstaat wurden diese zunehmend ethnisch aufgeladen, wie diese Arbeit als eines ihrer vielen Ergebnisse herausstellt. In dieser historisch-anthropologischen Studie wurden die Entwicklung und Ausgestaltung dieser Grenzen, Grenzbereinigungen und ihre Folgen für die lokale Bevölkerung erstmals genau nachgezeichnet.

Dieses spannungsreiche Untersuchungsgebiet diente der Autorin für ihre komplexen und anspruchsvollen Fragestellungen als ein mikrohistorisches Beispiel, das am regionalen Fall interkulturelle Austauschbeziehungen beleuchtet, die durch das sich ausbildende Grenzregime des modernen Territorialstaates zunehmend begrenzt und regiert wurden. Es geht sowohl um die Formen, Funktionen und behördlichen Regulierungen von Alltagsmobilität ländlicher Unterschichten, die vor allem eine nahräumliche Mobilität zur Sicherung der eigenen Existenz darstellte, als auch um die Genese eines modernen Grenzregimes im 19. Jahrhundert. Aus der Perspektive der Migration wird es Katrin Lehnert möglich, verschiedene Grenzen (die staatliche; die konfessionelle; die ethnisch kodierte Grenze) und entsprechende Raumordnungen in ihrem dynamischen Mit- und Gegeneinander mikrohistorisch zu beleuchten.

So sind z.B. die Grenzüberschreitungen anlässlich des Kirchen- oder Schulbesuchs Thema, wobei hier ein großer Pragmatismus von Seiten der Bevölkerung herausgearbeitet wird: Ob man z.B. als Katholik, in Sachsen in einer katholisch-protestantischen „Mischehe“ lebend, sein katholisches Kind nun trotz des weiten Weges in eine der wenigen sächsischen katholischen Schulen schicken sollte? Oder ob man den Weg in eine vergleichsweise weit entfernte katholische Kirche auf sich nahm? Die Quellen zeigen es: Pragmatisch ging man in die nähere evangelische Schule (oder Kirche) oder auch in die unter Umständen nähere katholische Schule in Böhmen hinter der Grenze (bzw. man blieb dem Sonntagsgottesdienst einfach fern). Mit der Mobilität und Durchmischung der Bevölkerung nimmt auf jeden Fall die Säkularisierung zu – auch dies ist ein wichtiger Befund dieser Studie; von den Geistlichen wird diese Kosmopolitisierung jedoch nicht als „Toleranz“ bezeichnet, sondern als „Indifferentismus“ gegeißelt.

In der Arbeit finden sich viele solche Fallstudien zum bisweilen höchst widerständigen alltäglichen Umgang mit einer Grenze, die sich kurioserweise nach der Grenzbereinigung zwischen Sachsen und Böhmen zur Jahrhundertmitte gleich mehrfach durch ein Dorf schlängelte. Ein weiterer Baustein der Arbeit rekonstruiert die Formen der Pendelmigration im Feld der Erwerbsarbeit, das sich mit der Industrialisierung nachhaltig wandelte. Die Bewegungen der Arbeitskräfte, die aus Böhmen in die neu entstehenden sächsischen Fabriken pendelten, sind genauso Thema wie der mit der Ausbildung des Nationalstaats nach 1971 sich verschärfenden ethnischen Nationalismus.

Im Grenzraum leben, hieß auf jeden Fall mobil sein: Alltagsmobilität ist kein Phänomen der globalisierten „Zweiten Moderne“ (um hier Ulrich Becks Begrifflichkeiten zu bemühen), sondern bereits in der „Ersten Moderne“ häufiger als bislang gesehen, Realität der Vielen: In rekonstruierten Biografien aktenkundig gewordener Fälle und mit der Auswertung statistischen Materials kann Katrin Lehnert zeigen, wie etwa Dienstmägde hochmobil waren, häufig ihre Stellungen wechselten und – in einem Fall – immer wieder ins Elternhaus zurückkehrten, etwa anlässlich unehelicher Schwangerschaften, um bald wieder in einem relativ großen räumlichen Radius eine Stellung zu suchen.

Die Ergebnisse ihrer Analyse zeigen eine große Vielfalt unterschiedlicher Mobilitäts- und Sesshaftigkeitsformen in ländlichen Gebieten des 19. Jahrhunderts. Beispielsweise erstreckten sich Arbeitswanderungen des hochmobilen ledigen Gesindes über Wanderarbeiterfamilien, die gemeinsam von Eisenbahnbau zu Eisenbahnbau zogen, bis zu hausbesitzenden Heimweber/innen, die ihre Erzeugnisse durch Wanderhandel verkauften. Bereits die zeitgenössischen Verwaltungsbehörden hatten große Schwierigkeiten, diese alltägliche und meist kleinräumige Mobilität in klare und verwaltbare Kategorien einzuteilen. Auch rückblickend ist die heute übliche Einteilung in „Sesshafte“ versus „Migranten“ kaum möglich. Denn mobile Lebensabschnitte wechselten sich häufig mit Perioden der Sesshaftigkeit ab. Zudem gab es nicht wenige, die trotz festem Wohnsitz regelmäßig umherzogen, beispielsweise um Waren zu verkaufen oder ihre Arbeitskraft anzubieten. Umgekehrt ließen sich Wohnsitzlose immer wieder kürzer oder länger an einem Ort nieder.

Diese „Un-Ordnung“ in individuellen Lebensläufen hatte zur Folge, dass die Versuche der Mobilitätskontrolle der sozialen Realität stets hinterherhinkten. Dies galt in Bezug auf die Überwachung von Tagelöhner/innen, die Steuerung der Mobilität von Bettler/innen, die Unterbindung von Grenzschmuggel und in Bezug auf die Regulierung des Wanderhandels. Jedoch etablierte sich mit der Zeit eine professioneller werdende Grenzkontrolle, die wesentliche Funktionen der Mobilitätskontrolle übernahm. Somit wurde die Frage, wer auf welche Weise einer staatlichen Kontrolle unterworfen wurde, nicht mehr ausschließlich nach der sozialen und beruflichen Zugehörigkeit beantwortet, wie die Autorin herausarbeiten kann. Mit der Verlagerung der Kontrolle an die Außengrenzen wurde zugleich jedoch ein ethnisch-kulturelles Moment gestärkt, das sich in den deutschen Ländern genuin gegen solche Mobile richtete, die als polnisch, slawisch oder jüdisch wahrgenommen wurden. Diese alltägliche Grenzüberschreitung hatte umgekehrt Anteil an der Verfestigung der Staatsgrenze –beispielsweise dadurch, dass mit einer Verschärfung der Gesetzeslage auf sie reagiert wurde.

Katrin Lehnert hat eine faszinierende –übrigens bereits mit dem Preis für die beste Dissertation der Fakultät für Kulturwissenschaften ausgezeichnete – Studie vorgelegt, die sich in der Schnittstelle von historischen Mobilitäts- und Migrationsstudien, Regional- und Grenzforschung sowie historischer Arbeitsforschung bewegt. Diese Forschungsfelder werden insbesondere dadurch befruchtet, dass die Autorin zu einer Prüfung von althergebrachten Prämissen und Kategorien mahnt. Dabei war die Fokussierung auf ein räumlich und zeitlich begrenztes Untersuchungsfeld die Voraussetzung, um durch 'Nahaufnahmen mit hoher Tiefenschärfe' ein möglichst umfassendes Bild grenzüberschreitender Mobilität im 19. Jahrhundert zu zeichnen.

Die Vergabe des Georg R. Schroubek-Dissertationspreises für diese multiperspektivische Gesellschaftsanalyse der Genese des sächsisch-böhmisch-schlesischen Grenzraums im 19. Jahrhundert würdigt eine reife, theoretisch höchst innovative wissenschaftliche Leistung, zu der man Katrin Lehnert nur gratulieren kann.