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Dr. Oldrich Tůma: Festrede am 24. April 2009

Sehr geehrter Herr Vizepräsident, sehr geehrter Herr Professor Roth, sehr geehrter Herr Eckert, vážený pane vicekonzule, liebe Frau Spiritova, meine Damen und Herren,

erlauben Sie mir einleitend hervorzuheben, dass es für mich eine große Ehre ist, meine Rede hier, anlässlich der Verleihung des Georg. R. Schroubek Dissertationspreises, vorzutragen. Meine Freude darüber ist um so größer, als die diesjährige Preisträgerin meine, sagen wir mal, Halb-Landsmännin ist. Marketa Spiritova widmete ihre Dissertation einem großen und umfangreichen Thema, nämlich jenem historischen Zeitabschnitt, in dem die Tschechoslowakei durch das kommunistische Regime unterjocht war. Bevor ich auf die Arbeit von Marketa Spiritova zu sprechen komme, erlauben Sie mir einige Worte zum Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit zu sagen sowie dazu, wie es der tschechischen Gesellschaft und ihren Eliten gelingt, die kommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten.

Je weiter die Zeit des Untergangs des Kommunismus zurückliegt, desto intensiver und unversöhnlicher ist die tschechische Kommunismus-Debatte. Manche derjenigen, die mit dem langen Abstand von knapp 20 Jahren Überlegungen über den Kommunismus und seinen Zusammenbruch anstellen, projizieren oft völlig unangemessen Ansichten und die geistige Stimmung einer viel späteren Zeit in ihre Urteile über diese Ereignisse. Zu den Besonderheiten der Kommunikationsstrategie derjenigen, die sich zu den umstrittenen Fragen äußern (neben dem Kommunismus gehören zu diesen Fragen häufig auch deutsch-tschechische Beziehungen), gehört, dass sie es durchweg für angebracht halten, mit der Feststellung zu beginnen, ihr Thema sei bisher fast völlig ignoriert worden und deshalb müsse das  Schweigen endlich gebrochen werden.

Tatsächlich ist in den letzten knapp zwanzig Jahren zu beiden Themen jedoch sehr viel gesagt und geschrieben worden – von Ignorieren und Tabus kann somit keine Rede sein. Auch werden in diesen manchmal sehr polemischen Debatten die Ansichten und Stellungnahmen mehr zusammengefasst und wiederholt, als dass sie etwas Neues bringen. Aber als Sprungbrett zu unseren Überlegungen können sie gerade deshalb gute Dienste leisten.

Die führende Tageszeitung Mladá fronta dnes versuchte anlässlich des Jahrestages des 17. November eine Bilanz der Jahre, die seit dem Zusammenbruch des Kommunismus vergangen sind, und präsentierte eine Zusammenstellung von Erfolgen und Misserfolgen. Der renommierte Journalist Viliam Buchert erkannte als den größten tschechischen Sieg die Tatsache, dass „wir ein völlig freies und demokratisches Land sind“, als die größte Niederlage hingegen, dass „wir die kommunistische Vergangenheit nicht bewältigt haben“. Der aufmerksame Leser sollte nachdenklich werden: Handelt es sich hier nicht etwa um einen Widerspruch? Sind Freiheit und Demokratie nicht ein Gegensatz des kommunistischen Regimes? Kann denn beides gleichzeitig seine Geltung haben? Ich denke, dass viele tschechische Leser über die Behauptung Bucherts nicht stutzig geworden sind – sie entspricht nämlich der Mehrheitsstimmung. Es bleibt also nichts anderes übrig, als zu versuchen, darüber nachzudenken, was man sich unter einer solchen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit eigentlich vorstellen sollte.

Das Problem, wie man mit der Vergangenheit umgehen sollte, ist in seinem Inneren jedoch kompliziert und kann auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden. Die Struktur meiner knappen Darlegung ist inspiriert durch einen Text von Andrzej Paczkowski, den er für die Zeitschrift unseres Instituts geschrieben hat und der sich mit der polnischen Erfahrung der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit auseinandersetzt. Dabei geht es zum einen um legislative oder gerichtliche Vorgänge, also darum, was allgemein als transitional justice bezeichnet wird, zum anderen geht es um öffentliche Debatten über die kommunistische Vergangenheit und das Verhältnis der „gemeinen Gesellschaft“ zur Vergangenheit sowie den vollzogenen Wechsel der Symbole.

1. Was den Symbolwechsel betrifft, so verlief er in Tschechien gründlich und zügig. Ich kann mich an eine Reise nach (damals noch) Ost-Berlin im Jahre 1990 erinnern, als ich eine Adresse in der Otto Grotewohl Straße zu finden hatte; ich war überzeugt, dass sie anders heißen würde und war überrascht, als ich das Gegenteil feststellen musste. Ich denke, dass es in Deutschland bis heute möglich ist, öffentliche Räume, Skulpturen oder Ähnliches aus dem Reservoir des sozialistischen Pantheons anzutreffen. So etwas ist in Tschechien so gut wie undenkbar. Gottwaldov ist bei uns bereits im Dezember 1989 wieder in Zlín umbenannt worden. Die Prager Uferstraße, die einst – mit Václav Havel gesprochen – den Namen eines unbedeutenden deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts (Friedrich Engels) getragen hatte, wurde ebenfalls kurz nach der Wende nach einem bedeutenden böhmischen Volkswirtschaftler des 20. Jahrhunderts (Alois Rašín) umbenannt; einen neuen Namen erhielten auch weitere zig-Hunderte öffentliche Anlagen. Weniger interessant ist dabei, welche Namen verschwanden, als vielmehr, durch welche sie ersetzt wurden – manchmal ging es lediglich um die Rückkehr zur ursprünglichen Bezeichnung (am häufigsten Thomas G. Masaryk), meistens wurden jedoch die Namen der Opfer oder Gegner des kommunistischen Regimes gewählt (Milada Horáková, Petr Zenkl, Jan Palach und so weiter). In einem geringeren Maße handelte es sich um Benennungen, die neue politische Prioritäten symbolisierten (zum Beispiel heißt die frühere V. I. Lenin Straße, die den Prager Flughafen mit der Innenstadt verbindet, heute Europäische Straße). Dutzende von Plastiken, Gedenktafeln und dergleichen sind entfernt worden. Soviel ich weiß, löste diese verbale und visuelle Dekommunisierung des öffentlichen Raumes keine bedeutenderen Auseinandersetzungen aus, bis auf solche Fälle, in welchen Namen oder Artefakte entfernt wurden, die mit dem kommunistischen Regime nur indirekt zusammenhingen bzw. von diesem nur als Symbole genutzt wurden. Es gab z.B. Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem sowjetische Panzer, der 1945 als erster in Prag eintraf, und der nach der Wende zunächst rosa angestrichen und anschließend entfernt wurde, oder über die nach dem kommunistischen Funktionär Jan Šverma benannte Brücke, die heute Štefánik-Brücke heißt, obwohl Šverma bereits während des Krieges ums Leben kam. Im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre wurden zahlreiche Plastiken, Gedenktafeln und Ähnliches aufgestellt, die an die Verbrechen der Kommunisten erinnern oder ihre Opfer ehren. In einer in Zusammenarbeit mit der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED Diktatur“ vorbereiteten Übersicht haben wir in unserem Institut für Zeitgeschichte mehr als 350 solcher Artefakte dokumentiert. Nur in einigen wenigen Fällen (auch wenn diese an sich recht interessant sind) war die Errichtung solcher Denkmäler von Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene begleitet.

Dass der öffentliche Raum solcherart radikal dekommunisiert worden ist, sagt zwar einiges aus, doch war es gleichzeitig die simpelste und einfachste Form der Dekommunisierung.

2. Wendet man sich der Meinung des „durchschnittlichen Bürgers“, der „gemeinen Gesellschaft“ zu, so wird das kommunistische Regime mehrheitlich als eine negative Erscheinung empfunden. Wir sollten uns nicht von der Tatsache täuschen lassen, dass die Vergangenheit im Vergleich zur Gegenwart laut verschiedenen Meinungsumfragen manchmal von der knappen Hälfte des Befragten als besser bewertet wird. Denn das liegt an der Art und Weise, wie die Fragen gestellt werden. Zum Ausdruck kommt dabei vor allem die Unzufriedenheit mit einigen Zuständen der gegenwärtigen Lage: dem Lebensniveau eines Teils der Gesellschaft, der Arbeitslosigkeit (die es früher nicht gab), der steigenden Kriminalität (die es hier früher entweder nicht gab oder die zumindest nicht so vehement in der Öffentlichkeit diskutiert wurde), und so weiter und so fort. Dass die Gesellschaft oder ein Teil von ihr mit der gegenwärtigen Lage unzufrieden ist, bedeutet jedoch nicht, dass sie die vergangene Epoche nicht negativ beurteilen würde. Dies ergeben wiederum Meinungsumfragen, die explizit nach der Vergangenheit fragen: Die Jahre von 1948 bis 1989 werden dort unter den schlimmsten Zeitabschnitten der tschechischen Nationalgeschichte genannt. Das heißt aber nicht, dass es in der tschechischen Gesellschaft keine überzeugten Kommunisten oder echte Nostalgiker nach den alten Zeiten gäbe – doch sie bilden lediglich eine Minderheit, wenn auch eine weniger unübersehbare, als Vielen lieb ist.

3. Ein tiefer gehender politischer oder journalistischer Diskurs über die Vergangenheit ist im Fall Tschechien, so fürchte ich, allzu sehr instrumentalisiert, um auf Wesentliches des Verhältnisses zur Vergangenheit schließen zu können. Eine solche instrumentelle Auffassung der Vergangenheitsdebatte hat in Tschechien übrigens eine lange Tradition, rufen wir uns nur die Debatten über die Bedeutung des ausländischen sowie inneren Widerstands während des Ersten Weltkrieges und ihre Protagonisten Kramář und Masaryk in Erinnerung. Das eigentliche Ziel der harschen Ablehnung des Kommunismus waren und sind in der Regel nicht (oder nicht in erster Linie) die Kommunisten selbst (die ehemaligen oder die jetzigen), sondern der jeweilige politische bzw. ideologische Gegner. Die aufgestaute Antikommunismus-Welle innerhalb des Bürgerforums (Občanské Fórum - OF) im Frühjahr 1990 war eine Begleiterscheinung bei der Formierung jener Plattform, die die Repräsentanten des Vor-November Dissidententums aus der Führung des OF schließlich entfernt hatte (manche von ihnen waren bis Ende der 60. Jahre KPČ-Mitglieder). Auch das OF seinerseits verhärtete vor den ersten freien Wahlen im Jahre 1990 seine antikommunistische Wortwahl erheblich. Seine eigentliche Zielscheibe waren hier allerdings mehr die ehemaligen Nationalfront-Parteien, darunter besonders die Volkspartei, die aufgrund ihrer zunehmenden Beliebtheit kurz vor den Wahlen als eine gefährliche Konkurrenz erschien. „Historische“ politische Parteien konterten damals wiederum mit einem Antrag auf das KPČ-Verbot. In diesen Zusammenhang gehört der einzige wirklich große und politisch bedeutende Skandal, als im Zuge der Lustrationen der damalige Vorsitzende der Volkspartei Karel Bartončík kurz vor den Wahlen der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit bezichtigt wurde. Das Wahlergebnis der Volkspartei wurde dadurch ohne Zweifel stark beeinflusst. Wir könnten eine ganze Reihe ähnlicher Fälle für die darauf folgenden Jahre aufzählen – bis hin zu der heute sehr akzentuierten Kritik der KSČM (heute Kommunistische Partei); das sekundäre (oder vielleicht primäre) Ziel ist manchmal ein anderes politisches Subjekt.

Jacques Rupnik wies übrigens seinerzeit nach, dass man auch bei den beiden Protagonisten der tschechischen politischen Szene und der tschechischen Vergangenheitsdebatte nach dem November 1989, Václav Klaus und Václav Havel, relativ inkonsistente Aussagen über die Vergangenheit antreffen kann: sehr schlagkräftige sowie relativ versöhnlich gestimmte. Der stark ausgeprägte Antikommunismus und die Forderung nach einem Verbot der Kommunistischen Partei kehren in den vergangenen zwanzig Jahren fast periodisch wieder – nur werden sie von jeweils unterschiedlichen politischen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren aufgegriffen, wobei es sich dabei um Akteure handelt, die manchmal fast diametral unähnlich erscheinen. Es ist nämlich geradezu unglaublich, dass aus diesem Blickwinkel betrachtet dermaßen unterschiedliche Gruppierungen dicht nebeneinander in Erscheinung treten können, wie etwa die Bürgerinitiative „Kein Kontakt mit den Kommunisten!“ einerseits und die Republikanische Partei Miroslav Sládeks andererseits. Bei der Bürgerinitiative handelt es sich vor allem um Künstler, die, vereinfacht gesagt, Václav Havel und den Anschauungs-Plattformen nahe stehen und die die Hauptströmung in den Dissidentenkreisen der siebziger und achtziger Jahre geprägt hatten; bei der Republikanischen Partei handelt es sich um eine berühmt-berüchtigte extrem populistische Partei aus den frühen neunziger Jahren, die zum Glück mittlerweile von der politischen Szene verschwunden ist. Diese Partei war jedoch vor den Wahlen 1990 und noch einige Zeit danach eine von ihrem Programm her rein monothematische Gruppierung – sie forderte das Verbot der Kommunistischen Partei und bezichtigte jedermann der Versöhnlichkeit und Zusammenarbeit mit den Kommunisten.

Dass die Instrumentalisierung des Vergangenheitsbildes in der Gegenwart als Argument in den Auseinandersetzungen benutzt wird, ist zwar verständlich und auch ziemlich logisch, doch kann man dabei nicht übersehen, dass es sich manchmal, wenn nicht überwiegend, um einen übermäßigen Gebrauch oder geradezu Missbrauch des Themas handelt – ein solcher Umgang mit der Vergangenheit kann zum notwendigen Effekt der Vergangenheitsbewältigung kaum einen Beitrag leisten.

4. Das wohl meistkritisierte Moment der Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit ist der Bereich der transitional justice; ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob dies mit Recht geschieht. Man muss hier legislative Maßnahmen, die sich im allgemeinen bewährt hatten, sicher nicht besonders hervorheben. Dazu gehört z. B. die großzügige Rehabilitierung (und Entschädigung) der meisten Opfer der politisch motivierten Verfolgung en bloc (1990) sowie das sogenannte Lustrationsgesetz (1991), das zwar sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrief, aber wenigstens bewirkt hat, dass der Tschechischen Republik große Affären mit ehemaligen Agenten erspart geblieben sind (zumindest in der hohen Politik und im Vergleich zu den Nachbarländern). Schließlich gehört hierher auch das Gesetz über die Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und die Berechtigung des Widerstands dagegen; dieses Gesetz hatte unter anderem die Verjährungsfristen so angesetzt (ab 1989), dass es überhaupt erst möglich war, die meisten Verbrechen des Kommunismus zu ahnden.

In der Tschechoslowakei sind noch vor der Verabschiedung des genannten Gesetzes einige politische Persönlichkeiten strafrechtlich belangt und verurteilt worden: der Sekretär des Prager Stadtausschusses der KPČ Štěpán, der Innenminister Kincl oder hohe Offiziere der Staatssicherheit (Státní bespečnost - StB) (Lorenc, Vykypěl und andere) sowie einige Angehörige der Polizei. Es handelte sich allerdings nicht um transitional justice im eigentlichen Sinne des Wortes. Ihnen wurde der Prozess wegen Straftaten (Missbrauch ihrer Amtsbefugnisse und dergleichen) gemacht, die sie in den letzten Wochen und Tagen des Regimes (Maßnahmen gegen die Demonstranten) oder gar nach der Wende (gesetzwidrige Vernichtung von schriftlichen Unterlagen) begangen hatten. Die Strafverfolgung von Personen, die schon früher verübte und mit dem Wesen des Regimes eng zusammenhängende Verbrechen zu verantworten hatten, ermöglichte in Grunde genommen erst die neue Festlegung der Verjährungsfristen. Solche Bemühungen, die kommunistische Vergangenheit zu bewältigen, sind meistens als Folge der Aktivitäten der Behörde für die Dokumentierung und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus anzusehen, wie (nach mehreren Umgestaltungen und Umbenennungen) das zentrale, seit 1995 mit der Untersuchung, Fahndung und Dokumentation der Verbrechen des Kommunismus beauftragte Amt zuletzt benannt wurde. Seit seinem Bestehen sind in ungefähr 100 Fällen Strafverfahren gegen mehr als 200 Personen eingeleitet worden. Bis zum heutigen Tag sind rund zwanzig Personen rechtskräftig verurteilt worden. Mag sein, keine besonders imponierende Bilanz, wenn auch mit Ausnahme von Deutschland statistisch gesehen wohl die beste. Jedes Urteil – wie unterschiedlich auch immer es ausfallen mag (Aburteilung oder Freispruch) – löst eine Welle der Kritik aus. Die kritische Reaktion der Medien belegt einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen der Rechtsvollstreckung, das heißt den juristischen Vorgängen, und dem Verlangen der Gesellschaft nach einer symbolischen Abrechnung mit dem vergangenen Regime. Bei der Rechtsvollstreckung kommt es allerdings darauf an, jedem Angeklagten im konkreten Straffall seine Schuld nachzuweisen – mit allen Problemen, die sich aus dem Zeitabstand, dem unvollkommenen Gedächtnis der Zeugen usw. ergeben und die auch dadurch entstehen, dass sich die Angeklagten ihres selbstverständlichen Rechtes bedienen, sich auf beliebige Weise zu verteidigen, und dass ihre Rechtsanwälte wiederum alle Möglichkeiten, die ihnen die Strafordnung bietet, nutzen, nicht nur zur Verteidigung, sondern auch zur Verzögerung des Urteils. Genau solche Kritik lässt sich exemplarisch an der Reaktion der Medien auf das Urteil gegen den ehemaligen Staatsanwalt Karel Vaš belegen, der für seine Teilnahme am Justizmord an General Píka zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde (später wurde das Urteil aufgehoben). Die Medien kritisierten das Urteil als viel zu milde, Jiří Loewy schrieb damals in der Tageszeitung Lidové noviny, das Urteil sei eine Farce, denn die tatsächlichen Täter – nämlich die Politbüro-Mitglieder – seien es, die rechtlich belangt werden sollten. Eine relativ morbide Vorstellung, bedenken wir, dass im Jahre 2001, als das Gerichtsverfahren stattfand, alle Politbüro-Mitglieder von 1949 längst tot waren.

Ein solcher Akt symbolischer Reinigung und genereller Gerechtigkeit ist von der tschechischen Justiz und den einzelnen verhandelten Rechtssachen nicht zu erwarten, wenn die Grundsätze der Unschuldsvermutung, des Rechts auf Verteidigung usw. respektiert werden sollen (und das sollen sie). Eine solche symbolische Reinigung hätte vielleicht eine revolutionäre Gerechtigkeit gleich nach der Wende vollbringen können. Niemand hat jedoch danach gerufen. Und ein solcher Umbruch hätte bereits 1953 oder 1956 stattfinden müssen, denn die überwiegende Haltung gegenüber dem Regime äußerte sich im Jahre 1989 vielmehr in der Verachtung und im Spott und nicht im glühenden Hass.

Man kann das Vorgehen der Justiz in konkreten Fällen sicher kritisieren, aber so eine allgemeine Verdammung verdient sie meines Erachtens nicht. Was Bedenken auslösen kann, ist die Tatsache, dass die tschechische (im Unterschied zu der deutschen) Justiz sich nie dazu entschlossen hat, führende Funktionäre des Regimes vor Gericht zu stellen, weil sie eine ungeheuerliche verbrecherische Maschinerie aufgebaut und geleitet haben: Sie werden immer nur im Zusammenhang mit konkreten Fällen belangt.

Falls im Jahre 1989 jemand erwartet hatte, dass sich die Gefängnisse mit Mitgliedern der Staatssicherheit und mit kommunistischen Funktionären füllen würden, wodurch der Gerechtigkeit genüge getan würde, muss also enttäuscht bleiben – und so etwas hat, real betrachtet, kaum jemand erwartet. Manche Leute haben vielmehr gehofft, dass die kommunistische Partei allmählich verschwinden und jede öffentliche Unterstützung verlieren würde. Auch konnten sie sich Anfang der neunziger Jahre überhaupt nicht vorstellen, dass eine Links-Alternative (einschließlich etwa der Sozialdemokratie) eine deutliche Unterstützung der Öffentlichkeit erhalten könnte. Alle diejenigen müssen ebenfalls enttäuscht sein. Ebenso wie diejenigen, die erwartet hatten, dass sich eine allgemein verbindliche Vergangenheitsdarstellung durchsetzen würde, mit ausgeprägten Rollen von Helden, Verbrechern und Feiglingen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Thema der kommunistischen Vergangenheit im tschechischen öffentlichen Diskurs nicht stark präsent wäre und dass diese Vergangenheit nicht überwiegend als negativ empfunden würde. Ich fürchte allerdings, dass es gleich von Anfang an, seit 1989, gerade auf der individuellen Ebene zum Verdrängen und gesteuerten Vergessen gekommen ist. In den meisten Fällen haben wir uns über unser individuelles Versagen allzu leicht hinweggesetzt, oder wir sehen es nicht resp. wollen es gar nicht sehen, im besten Fall spielen wir solches Versagen herunter. Dies ist anhand von zahlreichen Fällen gut sichtbar, anhand von Erinnerungstexten, Interviews sowie diversen Diskussionen. Und dabei handelt es sich um ein wichtiges Problem, ist das Gedächtnis doch tatsächlich Teil unserer eigenen Identität – nicht nur der kollektiven, sondern auch (und vor allem) der individuellen.

Marketa Spiritova beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit dem Dissidententum der siebziger und achtziger Jahre. Das hat bereits eine ganze Reihe von tschechischen und ausländischen Historikern getan; die Autorin hat jedoch eine nicht abgenutzte Perspektive zur Betrachtung des Themas gewählt. Ihre Arbeit hebt sich deutlich davon ab, was über das Dissidententum bis jetzt geschrieben wurde, und so füllt sie eine beträchtliche Lücke in unserem Denken und unseren Kenntnissen darüber. Ihre Auffassung akzentuiert gerade die erwähnte individuelle Ebene (sie stützt sich auf Gespräche, schriftliche und mediale Ego-Dokumente usw.), sie konzentriert sich nicht nur auf Verfolgung und ihre Opfer, auf die Rolle und Bedeutung des Dissidententums für den Zusammenbruch des Regimes, sie analysiert nicht bloß die intellektuelle und politische Bedeutung von oppositionellen Texten und Dokumenten – wie das schon viele vor ihr getan haben. Sie beschäftigt sich vielmehr mit dem Alltagsleben der Dissidenten, erforscht verschiedene Bewältigungsstrategien, mit denen die verfolgten tschechoslowakischen Intellektuellen dem Druck des Regimes begegneten. Sie ist methodologisch innovativ, kombiniert verschiedene Formen von Rekonstruktion der Wirklichkeit und nimmt vielseitige Analysen vor. Ihre „dichte Beschreibung“ der vergangenen Wirklichkeit eröffnet tatsächlich Möglichkeiten zum breiten Verständnis und tiefen Nachdenken. Ihre Arbeit ist nicht davon betroffen, worunter der wesentliche Teil der aktuellen tschechischen Kommunismus-Debatte leidet: von der Schwarz-Weiß-Sicht und einem billigen verbalen Antikommunismus (wie einfach ist so etwas nach zwanzig Jahren!).

Es freut mich, dass die Dissertation von Marketa Spiritova bald gedruckt wird, und ich würde mir sehr wünschen, dass auch ihre tschechische Fassung in möglichst kurzer Zeit das Licht der Welt erblickt. Dies würde unseren tschechischen Diskurs über die kommunistische Vergangenheit auf alle Fälle bereichern und auch entschärfen. Ich beglückwünsche die Autorin noch einmal und danke dem verehrten Publikum für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit.