Sonderfonds Östliches Europa
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Dr. Marketa Spiritova: Dankesrede aus Anlass der Verleihung des Georg R. Schroubek Dissertationspreises am 24. April 2009 im HVB-Form in München

Im November jährt sich zum zwanzigsten Mal der Fall der Berliner Mauer, der den Zusammenbruch des Kommunismus und damit das Ende der Diktatur im östlichen Europa einleitete. Die Bilder, die wir dieses Jahr über die Fernsehbildschirme und auf den Titelseiten der Tagespresse werden sehen können, werden uns die vielleicht schon verschwommenen Bilder von den Flüchtlingen aus der DDR in der Prager Botschaft in Erinnerung rufen. Bilder von Günter Schabowskis legendärer Rede, von lachenden Menschen aus Ost und West auf der Berliner Mauer, vielleicht aber auch die von den Leichen des hingerichteten rumänischen Diktators Ceauşescu und seiner Frau Elena. Es werden vermutlich Bilder des Triumphes sein über eine menschenverachtende Ideologie, deren Niedergang den Weg zu einem gemeinsamen Europa ebnete.

Mittlerweile sind zehn Staaten des ehemaligen Ostblocks der Europäischen Union beigetreten, Kroatien ist fast schon drin und Serbien und die Ukraine klopfen an Europas Haustür und bitten um Einlass. Sowohl Europa als auch die einzelnen Nationen befinden sich auf der Suche nach einer gemeinsamen Geschichte, nach kollektiver Erinnerung und damit vor allem nach positiven Wegmarken der eigenen Vergangenheit. Doch das schwierige Erbe des Nationalsozialismus und Kommunismus machen die Suche nach einem gemeinsamen Wir nicht unbedingt leichter. Die unterschiedlichen Geschichten und Erinnerungen, die in den nationalen Gedächtnissen eingespeichert sind, erschweren die Konstruktion nationaler Identitäten und noch mehr der von Brüssel erstrebten europäischen Identität. Allein das Beispiel der Tschechischen Republik führt die Ambivalenzen der Vergangenheitsbewältigung deutlich vor Augen. In kaum einem anderen Land wurde so ein starker Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit initiiert. Die Zeit zwischen der kommunistischen Machtübernahme 1948 und der ‚samtenen Revolution’ 1989 wird in politischen und gesellschaftlichen Diskursen sowie in Schulbüchern als gewaltsam unterbrochene Geschichte beklagt und ein kompromissloser Antikommunismus propagiert. Dass der tschechische Kommunismus seine Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert hat und die Kommunistische Partei bei freien Wahlen 1946 im tschechischen Landesteil fast 40% der Stimmen erzielte und damit zur stärksten Partei wurde, wird gerne außer acht gelassen. Vielmehr wird seit der politischen Wende an die bürgerlichen, demokratischen Traditionen der Nationalen Wiedergeburt und vor allem der Ersten Republik (1918-1938) angeknüpft und damit auf positive nationale Narrative rekurriert. Besonders seit der Teilung der Tschechoslowakei 1993 ist ein tschechisch-nationaler Identitätsdiskurs zu beobachten, in dem die eigene Geschichte als Kampf gegen Fremdbestimmung und Unterdrückung – vor allem durch die Deutschen und die Sowjets – gedeutet wird. Die Antwort auf die Frage nach dem historischen Wissen um weniger positive Ereignisse und Epochen wie z.B. die Zeit der ‚Normalisierung’ der 1970er und 80er Jahre, die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach 1945 oder der eigenen Verstrickung in den Holocaust fällt beim Blick in Umfragestatistiken und Schulbücher eher ernüchternd aus. Dies ist u.a. dem Umstand geschuldet, dass aufgrund des großen Defizits an alltagsgeschichtlichen Fragestellungen kaum eine Reflexion der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Vergangenheit stattfindet und die Lebenswelten der älteren Generationen für die jüngeren Generationen im Dunkeln bleiben. Einer solchen alltagsgeschichtlichen Untersuchung jener Lebenswelten habe ich mich in meiner Dissertation widmen dürfen und hoffe, damit einen kleinen Baustein der jüngsten tschechischen Geschichte in das tschechisch-nationale, aber auch das europäische Gedächtnis eingeschrieben und dem Vergessen entrissen zu haben.

Die sog. ‚Normalisierungspolitik’ des kommunistischen Regimes der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, die das sozialpolitische System nach sowjetischem Vorbild wiederherstellen sollte, stellt ein schwieriges und in den Erinnerungen der Menschen ambivalentes Erbe dar. Die gewaltigen Bilder der Niederschlagung des Prager Frühlings, der einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz versprach, sind heute, gerade anlässlich des 40jährigen Gedenkens im letzten Jahr, allgegenwärtig, ebenso werden es die siegreichen Bilder von 1989 sein. Doch die Zeit dazwischen, die gekennzeichnet war durch ‚Massensäuberungen’ in der Kommunistischen Partei, die Gleichschaltung aller politischen Organe und Institutionen und die Übernahme der vollständigen Kontrolle der Massenmedien sowie des gesamten Kultur- und Bildungsbereichs, werden weithin vergessen sein. Ebenso die Tatsache, dass es sich um ein System gehandelt hat, dass, wie es der Dramatiker, ehemalige Dissident und erste demokratisch gewählte Präsident Václav Havel beschrieben hat, auf einer großen Lüge aufgebaut war. Einer sozialen Korruption gleich, versprach das Regime den Bürgern ein komfortables, ein sicheres Leben mit reichlich Lebensmitteln in den Geschäften, billigem Bier in den Kneipen, einem Auto und einer Datscha auf dem Land. Das einzige, was von den Menschen verlangt wurde, war äußere und öffentliche Konformität, die Einhaltung der offiziellen Rituale, ein „Tun als ob“. Ein System kann aber nur dann existieren, staatliche Gewalt und politische Repression können nur dann ausgeübt werden, wenn große Teile der Gesellschaft – wenn auch stillschweigend – diese zu dulden und mitzutragen bereit sind. Deshalb fällt die Erinnerung an diese Zeit schwer, zu viele Gruppengedächtnisse konkurrieren um ihren Platz im nationalen Gedächtnis, wobei die Lebensgeschichten der Menschen, die vom Schicksal auf den ‚Kehrichthaufen der Geschichte’ geworfen worden waren, freilich zu jenen gehören, die dem nationalen Verdrängen anheim fallen sollen. Es waren insbesondere Intellektuelle, die in den 1960er Jahren eine ‚Kritische Öffentlichkeit’ konstituierten, und dann nach der Zerschlagung des Prager Frühlings den Säuberungen zum Opfer fielen. Und auch während der ‚Normalisierung’ blieben sie das einzige moralische Gewissen, indem sie dem Regime, aber auch der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen hielten.

Nachdem nach der Machtübernahme durch die Kommunisten, so Amos Elon, „alle anderen moralischen Bezugspunkte zerbrachen, blieb einzig die Kultur, blieben Romanautoren, Dramatiker, Schauspieler, Philosophen, Lyriker, Regisseure, bildende Künstler und Musiker übrig, die eine moralische Glaubwürdigkeit, Würde und die Fähigkeit, jüngere zu inspirieren, bewahrten.“ Die Intellektuellen aus den Bereichen von Kultur und Wissenschaft spielten eine herausragende Rolle für die vielfältigen Freiheitsbewegungen und sie wurden „besonders in der Tschechoslowakei [...] auch zu modernen Helden, weil man sie zwang, zu Angehörigen der Arbeiterklasse zu werden und als Nachtwächter und Heizer, als Taxifahrer und als Handlanger ihr Brot zu verdienen“, so Wolf Lepenies.

Im Fokus meiner Untersuchung steht eben diese gesellschaftliche Gruppe, Intellektuelle aus den Bereichen Bildung und Kultur, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 zu unliebsamen Klassenfeinden, zu sog. ‚politisch unzuverlässigen Subjekten’, zu ‚feindlichen Elementen’ degradiert wurden. Ihr Alltag und ihre kleine Geschichte in der von gewaltsamen Umbrüchen geprägten großen Geschichte stehen im Vordergrund. Welche Praktiken und Strategien konnten sie entwickeln und erfolgreich anwenden, um die existenzbedrohende Situation zu bewältigen? Welche Verhaltens- und Handlungsmuster mussten angeeignet, welche Formen neuer Lebensstile geschaffen werden und unter welchen Bedingungen geschah dies? Welche alternativen Lebensentwürfe waren überhaupt möglich in einem durch Repression und Mangelwirtschaft gekennzeichneten realsozialistischen Alltag? Die Antwort auf diese Frage scheint erstaunlich einfach: „Die Leute versuchten in einer zweiten Welt zu überleben, die sie sich geschaffen hatten“. „Bücher, Musik, Theater, wunderschöne kleine Inseln, auf welchen es möglich war, zu überleben“, so eine meiner Gesprächspartnerinnen. Doch der Weg dahin war sperrig und wurde begleitet von Parteiausschluss, Arbeitsverlust, Publikationsverbot und der Aberkennung von akademischen Titeln. Dies hatte wiederum eine mühselige Arbeitssuche, häufigen Arbeitsplatzwechsel, finanzielle Engpässe, Ausbildungsbenachteiligungen für die Kinder, Zerrüttung von Familien- und Freundschaftsbeziehungen, physische und psychische Erkrankungen und bei aktivem Widerstand Verhöre und Verhaftungen zur Folge. Als „tragische Ereignisse“, als „nationale Tragödie“ und als ein „böser Traum“ werden die dramatischen Ereignisse von 1968 und die darauf folgende Zeit der ‚Konsolidierung’ erinnert. Zur Illustration einige Beispiele aus den Lebensgeschichten:

Dann kam das Jahr 68. Der Einfall der Sowjets und der Machtwechsel. Im Inland begann eine Hexenjagd. Ich wurde für meine kompromisslosen Standpunkte rausgeworfen und dann hat für mich ein komplizierter Zeitabschnitt begonnen, weil ich keine Arbeit finden konnte. Die Atmosphäre war furchtbar und jetzt hatten wir noch drei Kinder, die mit Essen, Geld und Kleidung versorgt werden mussten.

Die Bewältigung der neuen Alltagsrealität erfolgte zunächst durch den Rückgriff auf defensiv ausgerichtete Strategien und den Rückzug in die innere Emigration, in ein geistiges Exil. Doch im Verlauf der siebziger Jahre, als das Regime sein Wüten gemildert und die Gesellschaft zum Schweigen gebracht hatte, entwickelten die Betroffenen eine ganze Fülle von Überlebensstrategien, die ihnen trotz manueller Arbeit, sozialem Abstieg und anderen Zersetzungs- und Disziplinierungsmaßnahmen eine erträgliche Lebensführung sowie ein Mindestmaß an individuellen Freiheiten und geistiger Autonomie gegenüber dem Regime gewährleistete. Die Intellektuellen befanden sich zusehends in der Lage, das System ihren „eigenen Bedürfnissen anzupassen, es manipulativ zu verändern und für eigene Ziele umzufunktionieren“ denn, so die Zeitzeugen, „wenn der Mensch ins Wasser springt, dann muss er schwimmen und das Beste daraus machen.“ Berufe wie Nachtwächter oder Heizer erfreuten sich z.B. größerer Beliebtheit, denn in Kesselhäusern habe man „ganze Bibliotheken verstecken“ und „illegale Seminare veranstalten“ können, der Dichter Ivan Wernisch soll dort drei Gedichtbände geschrieben haben. Und die für Intellektuelle wohl größte Mangelware im realexistierenden Sozialismus, die in staatlichen Buchpressen eingestampften Bücher und Zeitschriften? Die kamen aus den Altpapiersammelstellen. Man habe sich mit den Arbeitern dort angefreundet und, wie ein Interviewpartner zum Besten gab:

Die Jungs haben das, anstelle es in die Presse zu geben, gegen Rum getauscht. Wir brachten Rum und sie sagten „da sind die Bücher“. Das ist Bohumil Hrabal. Nur ohne den Humor. Die Altpapiersammelstellen waren wahnsinnig wichtige kulturelle Institutionen.

Eine der in den Erinnerungen am sichtbarsten zu Tage kommenden Strategien war, eben auch mithilfe solcher kultureller Institutionen und vor allem unabdingbarer informeller Netzwerke und sozialer Beziehungen, die Entwicklung einer ‚unabhängigen Kultur’ jenseits der Dogmen und Schemata der herrschenden Ideologie. ‚Unabhängige Strukturen’ wie das parallele Kommunikations- und Publikationssystem Samizdat (Selbstverlag) sowie verschiedene Formen von wissenschaftlichen Zirkeln, Wohnungsseminaren und ‚Untergrunduniversitäten’, eben jene kleinen Inseln, halfen dabei, die biographischen Brüche zu kitten, verlustig gegangene Identitäten wiederherzustellen und damit erfolgreich den Alltag zu bewältigen. Dabei sahen sich die Intellektuellen gleichzeitig im „Dienste eines kulturellen Auftrages“, indem sie die von den Kommunisten unterdrückte Nationalkultur vor ihrem Verschwinden bewahrten, indem sie parteistaatliche Diskurse von unten unterwanderten und durch eigene Sprach- und Verhaltensregelungen Gegendiskurse entwarfen und somit der „Verwüstung in der Kultur“ entgegenwirkten. In diesem Zusammenhang sollten auch die ausgetüftelten geheimen, aber auch gefährlichen Kanäle zwischen Ost und West nicht in Vergessenheit geraten. Denn, so die ehemalige Dissidentin Jiřina Šiklová, denn eben jene ‚kleinen Geschichten’, die sich in Wohnungen und Gebäudepassagen abspielten und die „nicht in Depeschen und Grußtelegrammen von Politikern verzeichnet“ waren, trugen „mehr zur ‚Durchlöcherung’ des Eisernen Vorhangs bei“ „als andere diplomatische Verhandlungen“.

Die ‚unabhängigen Strukturen’ dienten ferner als quasiöffentliche Räume mit zivilgesellschaftlichem Potential, aus welchen sich 1977 die Bürgerrechtsbewegung Charta 77 entwickelte. Das Engagement im Dissens brachte jedoch erneut Repressionen mit sich, Verhöre und Verhaftungen waren die Folge, Angsterzeugung, Isolierung und Kriminalisierung waren überaus beliebte Zermürbungsmittel der Staatssicherheit. Hierzu noch einmal ein kleines Beispiel aus den Interviews:

Es war Freitagabend und sie steckten mich in ein Auto. Das war ein Auto, das innen keinen Türgriff hatte, damit man nicht rausspringen konnte. Jetzt fuhren sie mich irgendwohin und ich wusste nicht wohin. Sie fuhren verschiedene Umwege. Und das war in einer Zeit, in der es schon vorkam, dass sie z.B. Menschen außerhalb von Prag brachten, sie dort auszogen und im Wald zurück ließen. Und jetzt waren die Leute nackt, hatten kein Geld und keine Papiere und blieben allein. So was kam vor. Nun, und ich wusste nicht, wo sie mich hinfahren. Aber vor allem: es wusste niemand. Dann brachten sie mich in die Untersuchungshaft in der Bartolomĕjská-Straße, aber sie führten mich nicht dorthin, wo sie mich gewöhnlich verhörten. Sie führten mich nach oben, wo die Galerien sind und unter ihnen der Hof. Und jetzt drückten sie mich an das Geländer, wie wenn sie mich vielleicht runterstoßen wollten. Das wollten sie nicht, aber sie wollten, dass ich Angst davor bekomme. Ich erinnere mich gut daran. Die größte Angst hatte ich, dass niemand weiß, wo ich bin und dass ich nicht zur Mutter kommen werde, die auf mich wartete. Davon hatte ich die größte Beklemmung. In solchen Situationen hatte ich Angst.

Heute, zwanzig Jahre nach dem Untergang des ‚Normalisierungsregimes’ und dem Ende des Kommunismus im östlichen Europa, überwiegen jedoch die positiven, manchmal gar nostalgischen Erinnerungen an die ‚unabhängigen Strukturen’ und den Dissens, die Charta 77, die „als ein soziales Labor“ fungiert habe. Man erinnere sich „eher an das Schöne als das Schlechte“, an „viele schöne Dinge und das Böse und Hässliche drum herum verschwindet im Nebel“, wie es Václav Havel formulierte, als er schon Tschechiens Präsident war. Triumph und Trauma gehen Hand in Hand, doch vermutlich, wie es eine meiner Interviewpartnerinnen beschrieben hat, „vermutlich drängt allein die Psyche die traurigen und besonders gefährlichen Ereignisse aus unserem Bewusstsein heraus.“ Was bleibt, ist „das Komische. Das Komische verknüpft mit dem Absurden.“