Sonderfonds Östliches Europa
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Festrede Prof. Dr. Moritz Csáky

Moritz Csáky (Wien)

 

Zentraleuropa – ein komplexer Kommunikationsraum

 

„Es erscheint schwierig“, meinte Max Brod, „einem Nicht-Prager die spaßigen und heiklen Nuancen unserer sprachlich geschichteten Gesellschaft vorzuführen, die mit großem Eifer das Talent pflegt, nur immer Trennendes der beiden Volkstämme, nie das Zusammenführende zu betonen […]. Demgegenüber wandelt mich die Lust an, zu beweisen […], daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern […].“  Das heißt dem politischen beziehungsweise national-politischen Narrativ einfach nur unkritisch zu folgen und dieses für ein „Abbild“ der sozialen und kulturellen Wirklichkeit zu halten, was für historische Darstellungen oft noch immer zutrifft, ist zumindest missverständlich, wenn nicht falsch. Max Brod polemisierte in der Tat immer wieder gegen die weit verbreitete Auffassung von einer sprachlichen und kulturellen Isoliertheit des so genannten Prager Kreises. Vielmehr, so Brod, „bestanden sehr wesentliche Freundschaftsstrahlungen zu tschechischen Dichtern hin, zu Musikern, Malern und zu tschechischen Menschen aller Stände, aller Klassen – ebenso zu deutschen und deutschjüdischen Gruppen in Wien, Berlin und andern Städten, auch solchen in Böhmen.“  Dies wäre vor allem deshalb möglich gewesen, weil die Beherrschung beider Sprachen für zahlreiche Prager Intellektuelle eine Selbstverständlichkeit war: „Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir; da gab es überhaupt nichts, was die Grenze oder Absonderung abgesperrt hätte. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte.“

Diese Überlegungen von Max Brod bilden den intellektuellen Ausgangspunkt für die mit dem Georg R. Schroubek-Preis ausgezeichnete Dissertation „Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918-1938)“  von Ines Koeltzsch. Gleich zu Beginn Ihrer Arbeit macht Frau Koeltzsch auf diese Problemlage aufmerksam, die den eigentlichen Gegenstand ihrer Untersuchung bildet: „Ziel dieser Arbeit ist es, ein differenziertes, multiperspektivisches Bild des tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungsgeflechts herauszuarbeiten, das die Heterogenität der weitgehend homogen vorgestellten Mehr- und Minderheiten deutlich macht. Die Studie leistet damit gleichzeitig einen Beitrag zu einer inter- und transkulturellen Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte multiethnischer Stadtgesellschaften in Ost- und Ostmitteleuropa zwischen den Weltkriegen.“  Die exzellente, theorieorientierte Untersuchung, die auf der sorgsamen Auswertung eines umfangreichen deutsch- und tschechischsprachigen Quellenmaterials und der Berücksichtigung der relevanten Sekundärliteratur beruht, versteht sich folglich, wie Ines Koeltzsch festhält, als eine „integrierte Stadtgeschichte.“  Bemerkenswert ist dabei der originelle methodische Zugang, dem die Arbeit verpflichtet ist, in der nämlich „nicht die Tschechen, die Juden oder die Deutschen […] die Akteure sind, sondern Volkszählungsexperten, Kommunalpolitiker, Intellektuelle sowie Produzenten und Konsumenten in der Großstadt.“ Daraus folgt „dass Selbst- und Fremdwahrnehmungen nichts Gegebenes sind, sondern das situativ gebundene Ergebnis häufig konflikthaft verlaufender Konstruktions- und Aushandlungsprozesse in der städtischen Gesellschaft.“  Das heißt, der Blick richtet sich gleichsam von Außen nach Innen, die Analyse bezieht sich auf jene ethnischen, nationalen und kulturellen „Fremdzuschreibungen“ (Kapitel I: Statistische Verortungen. Zur Konstruktion ethnisch-nationaler Gruppen in den Volkszählungen der Ersten Republik, S. 30-95), die Trennendes und Verbindendes in der öffentlichen Wahrnehmung erst zu etablieren und zu verfestigen vermochten, zu einer allgemein verbindlichen, zuweilen wenig hinterfragten Realität, zum Beispiel zu einer „invention of ethnicity“ werden ließen und symbolische Grenzziehungen festlegten (Kapitel II: Symbolische Grenzziehungen. Tschechisch-jüdisch-deutsche Interaktionen in der städtischen Politik, S. 96-197). Ines Koeltzsch analysiert in der Folge eben jene kulturellen Gemengelagen, die jenseits von solchen Zuschreibungen das „Beziehungs- und Verflechtungszusammenhänge in der Stadt“ ausmachen.  Dabei geht es ihr freilich um die Dekonstruktion des offiziellen, gesellschaftlich verankerten Bildes von dem Verhältnis von Deutschen, Juden und Tschechen in Prag, um das Aufzeigen „zahlreicher Zwischenräume oder ‚Zonen’ verdichteter transkultureller Kommunikation“,  um das „Ungesagte“, um jene „zones de silence“ (Michel de Certeau) oder „archives de silence“ (Jacques Le Goff), die sich der unmittelbaren Wahrnehmung zwar verschließen, die jedoch gerade diese keineswegs krisen- und konfliktfreie urbane Realität abbilden (Kapitel III: Grenzüberschreitungen. Kulturelle Vermittlung in der intellektuellen Öffentlichkeit, S. 198-280 und Kapitel IV: Urbane Zwischenräume. Tschechisch-jüdisch-deutsche Begegnungen in der Großstadtkultur, S. 281-376). Ich möchte versuchen, mit den folgenden, weiterführenden Überlegungen auf jene umfassenderen kulturellen Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die die durch Ines Koeltzsch in überzeugender Weise analysierte Situation in Prag während der Zwischenkriegszeit vielleicht in einen größeren, gesamtregionalen Kontext zu stellen vermögen.

Die zentraleuropäische Region, die nicht als ein geografisch oder politisch klar umschriebener Raum, sondern als eine „nichtintentionale Einheit“  definiert werden könnte, war bereits in der Vergangenheit von einer ethnischen und sprachlich-kulturellen Heterogenität geprägt. Darüber hinaus sind hier bis in die Gegenwart die drei monotheistischen Weltreligionen, das Judentum, das Christentum und der Islam in zum Teil unterschiedlichen „konfessionellen“ Ausformungen vertreten. Die Region war also von je her von einer dichten Plurikulturalität bestimmt, in der Unterschiede, Differenzen nicht einfach aufgehoben wurden, sondern, trotz kontinuierlicher kultureller Verschränkungen, gleichsam in einem „dritten Raum“, wie Homi K. Bhabha argumentiert,  weiter bestehen blieben. Plurikulturalität akzeptiert nicht nur Vielfalt, Plurikulturalität impliziert zugleich ein intellektuelles Verfahren, Differenzen anzuerkennen und mit dieser realen Vielfalt umzugehen. Ein solches Konzept von Plurikulturalität ist daher nicht mit jenem von Multikulturalität gleichzusetzen, die vorgibt, kulturelle Differenzen durch eine harmonische Kohabitation miteinander zu verschränken und dadurch Gegensätze zu beseitigen.

Diese plurikulturelle, traditionale horizontale kulturelle Differenziertheit der zentraleuropäischen Region, in der unterschiedliche sprachlich-kulturelle Gesellschaften zumeist nebeneinander, aber auch ineinander verschränkt existierten, wurde seit dem 19. Jahrhundert vor allem in den rasch anwachsenden urbanen Milieus deutlich sichtbar und im Kontext des nationalen Narrativs zunehmend negativ beurteilt. Die akzelerierten ökonomischen Veränderungen, die sich seit dem 18. Jahrhundert der Modernisierung beziehungsweise Industrialisierung und Technisierung verdankten, waren einerseits der Auslöser für eine vermehrte Zuwanderung in die Städte, andererseits wurden sie zur Ursache für eine dynamische Ausdifferenzierung der Gesellschaft, für eine vertikale Differenziertheit von unterschiedlichen neuen sozialen Schichten und Gruppen.

Die horizontale, sprachlich-kulturelle Differenziertheit der Region verdankte sich einer endogenen und einer exogenen, transregionalen, „globalen“ Pluralität beziehungsweise Heterogenität. Die endogene Pluralität betraf die in der Gesamt¬region vorhandene „ethnische“ und sprachlich-kulturelle Dichte. Die zentraleuropäische Region war in der Tat schon seit Jahrhunderten von einer Vielzahl von Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen bestimmt . Diese Vielfalt bestand, historisch betrachtet, auch in den unterschiedlichen politischen und Verwaltungstraditionen der Königreiche und Länder, die seit dem 16. Jahrhundert zu einem Staat, der Habsburgermonarchie vereinigt, trotz zahlreicher Zentralisierungsbestrebungen nicht beseitigt werden konnten. Diese pluralistische Situation begünstigte zwar die Chancen von Austauschprozessen, von Akkulturationen, sie beinhaltete jedoch auch eine kontinuierliche Präsenz von Differenzen und folglich von Widersprüchen und Gegensätzen, die die Ursache von permanenten Krisen und Konflikten sein konnte.

Unter einer exogenen Pluralität der Region verstehe ich die Summe jener von außen hinzukommenden Einflüsse, die hier auf die komplexen kulturel¬len und sprachlichen Konfigurationen eingewirkt haben. Es sind dies „kulturelle Transfers“, die sich vor allem außerregionalen, zum Beispiel spanischen, italienischen, französischen oder osmanischen kulturellen Kontexten verdankten und zu einem integralen Bestandteil der endogenen kulturellen Prozesse wurden.

Eine solche dichte Pluralität beziehungsweise Heterogenität der Region war schon in der Vergangenheit der Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. 1798 wird in einer Statistik des Königreichs Ungarn ausführlich auf die markante „Verschiedenheit der Menschen in Ungern“ aufmerksam gemacht, denen auch unterschiedliche Sprachen entsprächen.  In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisierte der Wiener Geograf Friedrich Umlauft die Monarchie in erster Linie nicht nur als einen Staat von nationalen Gegensätzen, sondern – und dies mutet durchaus modern an - als einen Staat von weitreichenden inneren Heterogenitäten und Kontrasten: „Wie unser Vaterland den Uebergang vom gegliederten und gebirgigen Westen des europäischen Continents zu dessen ungegliedertem und ebenen Osten bildet“, meint Umlauft, „so schließt es in Folge seiner bedeutenden Längen- und Breitenausdehnung auch die grellsten Gegensätze in Beziehung auf physische Verhältnisse, Bevölkerung und geistige Cultur in sich, weshalb man die Monarchie auch einen Staat der Contraste zu nennen berechtigt ist.“ So seien „in ethnographischer Hinsicht [...] auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie alle Haupt-Völkergruppen Europa’s und zwar durch bedeutende Massen vertreten: Germanen im Westen, Romanen im Süden, Slaven im Norden und Süden; dazu kommt noch die Gesammtheit [!] der Magyaren zwischen diesen Hauptvölkern.“ Diese Vielfalt wäre auch für das „historische Gedächtnis“ von Bedeutung, das nicht nur von einer, sondern von mehreren, von differenten historischen Erinnerungen bestimmt würde: „Daher fließt auch Oesterreichs Geschichte aus der Deutschlands, Ungarns und Polens zusammen, ähnlich der früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse in einem großen Strombette, das dann die aufgenommenen Wassermassen gemeinschaftlich weiterführt.“ Die unterschiedlichen Völker, die hier wohnen, wären zuweilen ineinander verschränkt und seien daher dynamischen Prozessen von Ethnogenesen ausgesetzt: „Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen, sondern sich in vielen Gegenden gegenseitig durchdringen, so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden. Ja die Vermischung der verschiedenen Nationalitäten lässt sich nirgends in Europa in so augenfälliger Weise beobachten, wie eben in unserem Vaterlande.“  Schon vor dieser Charakterisierung durch Umlauft hatte das berühmte Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker 1841 auf die Vielfalt von Völkern als auf ein für die Region charakteristisches Merkmal hingewiesen und daraus folgenden Schluss gezogen: „Die Stellung und der Umfang der mehreren Hauptnationen der Monarchie hat auf den Gedanken geführt, diese als ein Europa im Kleinen zu betrachten und, neben einem europäischen, ein besonderes östreichisches [!] Gleichgewicht vorauszusetzen.“  Ähnliches galt auch für einzelne Subregionen: Als ein „Europa im Kleinen“ hatte bereits zwanzig Jahre zuvor (1820) Johann Csaplovics das plurikulturelle Königreich Ungarn bezeichnet: „Aber nicht nur in Hinsicht der physischen Beschaffenheit und der Natur-Producte ist Ungern [!] Europa im Kleinen; auch in Hinsicht der Bevölkerung des Landes gilt diese Behauptung. Fast alle europäischen Volksstämme und Sprachen sind hier zu Hause. Mehrere größere und kleinere, in Hinsicht der Abkunft sowohl, als der Sprache und ihren physischen und moralischen Eigenschaften nach, wesentlich von einander unterschiedene Völker bewohnen es, und trotz der täglich mehr und mehr überhand nehmenden Vermischung hat jedes derselben seine Eigenthümlichkeit, jedes seine besondere Lebensart, eigene Gewohnheiten und Erwerbszweige beybehalten.“  Übrigens ist der ungarische Polyhistor Csaplovics, der sich im Laufe seines Lebens seiner slowakischen Herkunft zunehmend bewusst wurde, die meisten seiner Werke jedoch zunächst deutsch oder lateinisch verfasste, selbst ein Spiegelbild dieser pluralistischen Situation.

Solche Überlegungen waren der Vorstellung von Nation durchaus entgegengesetzt, die darauf abzielte, sprachlich und kulturell homogene Gesellschaften in klar umschriebenen (Staats-)Territorien zu schaffen. Das nationale Narrativ hatte zum Ziele, mit Bezug auf eine jeweils konkrete Sprache, die national-kulturelle Eigenständigkeit, das heißt die „Authentizität“ gegenüber den Anderen nachzuweisen beziehungsweise aufzubauen, zum Beispiel durch die militante Hervorkehrung von einer konkreten Sprache gegenüber anderen Sprachen, wie zum Beispiel 1844 durch die Einführung des Ungarischen als Staats- und Verwaltungssprache im vielsprachigen ungarischen Königreich. Auch während der Badeni-Krise im Jahre 1897, als es in Zisleithanien, der „österreichischen“ Reichshälfte um die Gleichberechtigung der tschechischen und deutschen Sprache in der böhmischen und mährischen Verwaltung ging, handelte es sich in Wahrheit um nichts anders als um die beabsichtigte Beseitigung von kulturellen Differenzen.

Historische Untersuchungen einer solchen komplexen sprachlich-kulturellen Situation beschränken sich zuweilen noch immer auf die Nachzeichnung solcher national-politischer Auseinandersetzungen, die als letztes Ziel die Schaffung von homogenen Nationen vor Augen hatten. Unter einer solchen Perspektive gerät freilich die Analyse gegenläufiger Tendenzen, die im Gegensatz zum „siegreichen“ nationalpolitischen Narrativ die sprachlich-kulturellen Unterschiede respektierten und auf die enge Verflochtenheit unterschiedlicher „nationeller“ Elemente aufmerksam machten, ins Hintertreffen, indem auch konkret nachweisbare politische Bemühungen, mit Differenzen positiv umzugehen, als unrealistisch abgetan wurden, unbeachtet der Tatsache, dass ein solcher positiver Umgang mit kulturellen Heterogenitäten im alltäglichen Leben zur Realität gehörte.

Es sind dies freilich Phänomene, deren Deutung nicht allein historisch-politischen Analysen überlassen werden sollte. Erblickt man nämlich hinter solchen Phänomenen in erster Linie die Vielfalt von sich konkurrenzierenden kulturellen Prozessen, könnte es hilfreich sein, sich bei der Analyse solcher Prozesse von einer anderen, nämlich von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive aus anzunähern. Die Relevanz einer solchen kulturwissenschaftlichen Perspektive wird vor allem dann einsichtig, wenn man davon ausgeht, dass Kultur, wie der Ethnologe Bronislaw Malinowski meinte, „als der umfassende Zusammenhang menschlichen Verhaltens“  sich darstellt. Nach Malinowski ist Kultur etwas Umfassendes, „das sich zusammensetzt aus Gebrauchs- und Verbrauchsgütern, den konstitutionellen Rechten und Pflichten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus menschlichen Ideen und Fertigkeiten, aus Glaubenssätzen und Bräuchen“.  Kultur ist demnach ein dynamischer Prozess von „Verhaltensweisen“, über die performativ und stets aufs Neue verhandelt wird. Clifford Geertz verweist ergänzend dazu auf die funktionale Komponente von Kultur, indem er die Bedeutung von Kontrollmechanismen ins Spiel bringt: Man sollte „Kultur besser nicht nur als einen Komplex von Verhaltungsmustern – Sitten, Bräuchen, Traditionen, Bündeln von Gewohnheiten“ begreifen, „wie es bislang der Fall war, sondern als eine Menge von Kontrollmechanismen – Plänen, Rezepten, Regeln, Anweisungen (was Informatiker ein „Programm“ nennen) – zur Regelung von Verhalten.“  Solche Kontrollmechanismen sind, folgt man der Argumentation von Simon Frith, kontinuierlich auszuhandeln, denn soziale Gruppen orientieren sich nachweislich nicht so sehr an vorgegebenen (kulturellen) Werten, sondern sie schaffen sich Werte, das heißt eine innere Kohärenz, durch soziale Handlungspraktiken immer wieder aufs neue: „Mit anderen Worten möchte ich vorschlagen“, meint Simon Frith, „dass sich soziale Gruppen nicht auf Werte einigen, die sich dann in ihren kulturellen Aktivitäten ausdrücken (das wäre die Annahme der homologischen Modelle), sondern dass sie sich als Gruppen (als eine besondere Organisationsform individueller und sozialer Interessen, von Identität und Differenz) durch kulturelle Aktivitäten, durch ästhetische Urteile erst konstituieren“.  Auch Stephan Greenblatts Kulturkonzept geht von einer Weiterführung der Malinowskischen Vorgaben aus: „Eine Kultur“, so Greenblatt, „ist ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen (negotiations) über den Austausch von materiellen Gütern, Vorstellungen und – durch Institutionen wie Sklaverei, Adoption oder Heirat – Menschen. […] In jeder Kultur gibt es einen allgemeinen Symbolhaushalt, bestehend aus den Myriaden von Zeichen, die Verlangen, Furcht und Aggression der Menschen erregen.“ 

Ich möchte mich solchen Überlegungen anschließen, darüber hinaus jedoch noch einen Schritt weiter gehen: Ich schlage vor, Kultur als „Verhaltensprozesse“ unter der zentralen Perspektive von Kommunikation zu begreifen. Denn sich gegenseitig in einer verständlichen Weise zu verhalten heißt nichts anderes, als miteinander zu kommunizieren. Es ist dies, wie Zygmunt Bauman meint, die Vision von Kultur als eines „spontanen Prozesses, der frei ist von administrativen oder leitenden Zentren.“  Kultur könnte daher definiert werden als das Ensemble von Elementen, Zeichen, Symbolen und Codes, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren. In einem übertragenen Sinne könnte Kultur daher als ein Kommunikationsraum begriffen werden, als ein Raum von „vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess[en], […] eine Dynamik sozialer Beziehungen“,  in dem durch die Setzung oder Verwerfung von Elementen Lebenswelten konstituiert und Machverhältnisse ausgehandelt werden. Kultur ist folglich ein Kommunikationsraum mit durchlässigen Grenzen, da immer wieder neue Elemente hinzukommen, andere an Aussagekraft verlieren, umgedeutet oder ausgeschieden werden. Kultur ist somit ein Geflecht von Anhaltspunkten, von sprachlichen oder mimetischen Umgangsformen und Ausdrucksweisen, das heißt von Bedeutungen, mit deren Hilfe Individuen und soziale Gruppen sich in einem umfassenden „sprachlichen“ beziehungsweise sozialen „Raum“ zu orientieren suchen. Jurij M. Lotmann bezeichnet unter einem kultursemiotischen Gesichtspunkt einen solchen, von Heterogenitäten geprägten Bereich einer Kultur als Semiosphäre: Jede „einzelne Sprache [ist] umgeben von einem semiotischen Raum, und nur kraft ihrer Wechselwirkung mit diesem Raum kann sie funktionieren. Der kleinste Funktionsmechanismus der Semiose, ihre Maßeinheit, ist nicht die einzelne Sprache, sondern der gesamte semiotische Raum einer Kultur.“  Die Einübung in ein solches (kulturelles) Zeichensystem, das auf bestimmte Codes oder Inhalte verweist, erfolgt vor allem in Schriftkulturen weniger durch rituelle Verfahren als durch performative schriftliche oder „bildliche“, das heißt mediale Vermittlungen. Inhalte werden nicht nur medial weitergegeben beziehungsweise geschaffen (Marshall McLuhan), sie können gleichermaßen auch kritisiert, in Frage gestellt, widerrufen oder verworfen werden, nicht selten durch die Setzung von subversiven, „karnevalesken“ Gegenpositionen im Michail Bachtin’schen Sinne. 

Kultur als Kommunikationsraum ist dynamisch, performativ, nicht „authentisch“ und somit vermischt, hybrid und folglich mehrdeutig. Der Schriftsteller Salman Rushdie hat aus seiner „kolonialen“ indischen Perspektive der Vorstellung von einer homogenen, „authentischen“ Kultur immer wieder eine klare Absage erteilt und auf die Komplexität und folglich auf die Mehrdeutigkeit von kulturellen Prozessen, Praktiken und Inhalten aufmerksam macht. Rushdies Kritik richtet sich vor allem gegen ein eurozentrisches Konzept von einer homogenen, essentialistischen Nationalkultur: „Einer der absurdesten Aspekte dieser Suche nach nationaler Authentizität“, meint Rushdie, „ist die vollkommen falsche Annahme, es gäbe so etwas wie reine, unverfälschte Traditionen, aus denen wir schöpfen könnten. Die einzigen Menschen, die ernsthaft daran glauben, sind die religiösen Extremisten. Wir anderen dagegen begreifen, dass das Wesen der indischen Kultur eben in dem Bewusstsein besteht, dass wir eine gemischte Tradition besitzen, eine Melange von Elementen, so unterschiedlich wie antikes Mughal und zeitgenössisches Coca-Cola-Amerikanisch. Ganz zu schweigen von muslimischen, buddhistischen, dschaistischen, christlichen, jüdischen, britischen, französischen, portugiesischen, marxistischen, maoistischen, trotzkistischen, vietnamesischen, kapitalistischen und natürlich hinduistischen Elementen.“  Ähnlich wie Rushdie argumentiert auch der polnische Komponist Krzysztof Penderecki: „Ich bin ein Hybride“, meint Penderecki. „Meine Familie stammt aus den Kresy [historisches Ostpolen]. Meine Großmutter väterlicherseits war eine Ormianin, mein Großvater – ein polonisierter Deutscher. […] Mein Vater kam aus der Ukraine. Er war orthodox […].“ Und weiter: „Beispielsweise hatte ich immer einen Hang zur Orthodoxie, andererseits faszinierte mich die westliche Kultur mit ihrem Rationalismus aber auch mit ihrer Kunst des Ausdrucks von kompliziertesten Gefühlen.“  Folgt man den Überlegungen von Walter Benjamin, ist das, was man als eine authentische Tradition, als eine kontinuierliche, verbindliche Überlieferung, als ein festes kulturelles Erbe erachtet, ein künstliches Konstrukt, und der Rekurs auf eine solche Überlieferung entspricht einer katastrophalen Fehleinschätzung: „Es gibt eine Überlieferung, die Katastrophe ist“,  denn sie spiegelt nur die kulturelle Position der Herrschenden und nicht die der vielen Beherrschten wider. Daher, so Walter Benamin, müsse „der Gegenstand der Geschichte aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs herausgesprengt“ werden,  einem Kontinuum, das nur wir, seine Interpreten, in die Geschichte eingeschrieben haben.

Dieser umfassende Kulturbegriff, den ich hier vorschlage, nämlich Kultur als Kommunikationsraum zu begreifen, beinhaltet noch andere wichtige Aspekte. Abgesehen davon, dass er Hoch- beziehungsweise repräsentative Kultur und Alltagskultur nicht trennt, sondern das gesamte lebensweltliche Umfeld berücksichtigt, beinhaltet die Vorstellung von Kultur als Kommunikationsraum eine deutliche Absage an jedwede essentialistische Vorstellung von Kultur, da (kulturelle) Kommunikationsräume als Zeichensysteme, in einem übertragenen Sinne, als „Texte“ aufgefasst werden können, die immer aufs neue „gelesen“ und interpretiert werden, die also nicht in sich abgeschlossen sind, vielmehr einerseits flüssige, flüchtige Übergänge gegenüber anderen Kommunikationsräumen aufweisen und Spuren hinterlassen, durch die sie mit jenen auf eine vielfältige, dynamische Weise verwoben sind. Kultur erweist sich insgesamt als flüssig und dynamisch, als ein sich kontinuierlich, performativ verändernder hybrider Raum. Dies zeigt sich beispielsweise an der andauernden, dynamischen Veränderung einer konkreten, gesprochenen Sprache, mit neuen Wortschöpfungen, Sinnzuweisungen, Wortveränderungen, wobei kontinuierliche Anleihen aus anderen konkreten Sprachen noch hinzukommen. Erst recht betrifft diese Dynamik die nonverbale Kommunikation. Dieselben Zeichen und Symbole können in unterschiedlichen kulturellen Kontexten vorkommen und lassen die Vorstellung von einer Abgeschlossenheit von Kommunikationsräumen als obsolet erscheinen. Die Relevanz der nonverbalen Kommunikation ist evident. Sie kommt im alltäglichen Leben weitaus häufiger vor als die konkrete sprachliche Kommunikation. Individuen oder Gruppen kommunizieren täglich mit Verkehrszeichen, mit der Verkehrsampel und ihren unterschiedlichen Farbsignalen. Sie orientieren sich in einer Stadt, indem sie in einen nonverbalen Dialog eintreten mit der Ausrichtung von Straßen und Plätzen, mit Wegweisern, mit Straßennamen, die den Straßen erst eine unverwechselbare Individualität verleihen, mit Gebäuden wie Kirchen, Palästen, Kaufhäusern, mit Denkmälern oder mit Skulpturen, die an Gebäuden angebracht sind. Sie kommunizieren mit einem Kirchturm, der als Wegweiser dienen kann. Adalbert Stifter lässt in seiner literarischen Stadtsemiotik „Wien und die Wiener“ die Spitze des Stephansturms, einer Pappel vergleichend, für den „armen Landbewohner“, der in der Stadt fremd ist, zum Orientierungszeichen werden: „Eine endlose Gasse nimmt ihn auf; ein Strom, der schmutzige und glänzende Dinge treibt, wird immer dichter, und immer lärmender, je näher er jener Pappel kömmt, die er jetzt nirgends sieht - ja dort tritt sie vor, ein dunkler schlanker riesiger Stift in der glänzenden Luft – nein sie ist es nicht; denn weiter rechts steht mit einem Male eine noch größere, ruhigere, graublau dämmernd, den Adler auf der Spitze tragend – diese ist’s man sieht fast das zarte Laubwerk an ihrem Schafte emporstreben.“  Menschen „lesen“ also den „Text“ einer Stadt, sie kommunizieren mit unterschiedlichen Zeichen, die auf etwas verweisen, zum Beispiel einen Turm, der ihnen Sicherheit verleiht und den sie daher immer wieder in den Blick zu bekommen suchen. In einer Menschenmenge orientiert man sich an der Ausrichtung und Gangart der Entgegenkommenden, man vergewissert sich dieser Situation stets aufs Neue, weicht aus, beschleunigt vielleicht den eigenen Schritt oder überlegt, einen anderen Weg einzuschlagen, um rascher voran zu kommen. Oder man folgt lautlos einem Menschenstrom, von dem man annimmt, dass er demselben Ort zustrebt, an dem ein Fest stattfinden soll, an dem man teilnehmen möchte. Nonverbale, mimetische Ausdrucksformen wie Blicke, Gesten, unterschiedliche Körperhaltungen begleiten jede verbale Kommunikation. Sie können auch durch Laute unterstütz werden, wie dem für unterschiedliche Sprachen Zentraleuropas typischen mehrdeutigen „aha“, das, jenseits einer konkreten, gesprochenen Sprache, je nach Tonhöhe oder Phrasierung, die nonverbale Form einer Zustimmung, einer Frage, einer Abneigung oder einer Ablehnung signalisieren kann. Die Verwendung unterschiedlicher folklorer rhythmischer Elemente in der Musik vermögen Zusammenhänge herzustellen, die zu erzeugen die Bühne eines Theaters nicht imstande ist: Mit dem Erklingen eines Walzers entfaltet sich das Bild von Wien, - aber auch die Vorstellung einer Hochzeit auf dem Lande. Durch einen Csárdás entsteht unmittelbar die Imagination einer ungarischen Tiefebene, - oder eines anderen Musikstücks, in dem ein Csárdás vorkommt. Mit dem Erklingen einer Polka kann eine böhmische Landschaft, aber ebenso ein Teil des Balletts am Ende des zweiten Aktes der „Fledermaus“ von Johann Strauß erinnert werden. Und der Cancan in der „Lustigen Witwe“ von Lehár ist nicht nur ein Signifikant für die Pariser Gesellschaft, er kann ebenso auf Jacques Offenbach verweisen, dessen Operette „Pariser Leben“ dieser Tanz entlehnt ist. Das heißt in einem komplexen, hybriden kulturellen Kommunikationsraum sind auch Gedächtnis und Erinnerung vielfältig und mehrdeutig. Im Wurstelprater, einer Unterhaltungsstätte vor allem der unterprivilegierten, zu einem Großteil zugewanderten städtischen Bewohner Wiens, wird diese Mehrdeutigkeit insbesondere bei den unterschiedlichen Tänzen wahrnehmbar. Der österreichische Ländler, die böhmische Polka und der ungarische Csárdás öffnen zwar jene unterschiedlichen kulturellen Räume, denen diese Tänze entstammen. In diesem Sinne argumentiert auch Felix Salten, Mitglied des „Griensteidl-Kreises“, dem namhafte Schriftsteller der Wiener Moderne angehört hatten: Beim Erklingen des Ländlers „ist hier Steiermark, Salzburg, Tirol, irgendein Alpenland, daß [sic!] seine Kinder umfängt.“ Bei der Kreuzpolka „ist hier Böhmen, ist hier das sonnige Hügelland von Mähren und die üppig prangende Ebene der Hanna“. Beim Csárdás ist es Ungarn, das sich als Illusion im Tanzsaal ausbreitet.  In einer früheren Version dieses Textes macht Salten freilich explizit auch auf die Mehrdeutigkeit, auf das differenzierende Moment solcher Tänze aufmerksam, denn der Ländler wird von den Städtern als Walzer, von den vom Land Hinzugezogenen als Ländler verstanden beziehungsweise „erinnert“: „Ein Ländler begann […]. Und jetzt waren die Großstadtkinder und die vom Lande Zugereisten deutlich zu unterscheiden. Für die einen war’s eben nur wieder ein Walzer, die anderen aber fingen an, sich in kleinen Gehschritten kirchweihmäßig zu wiegen, in jener ernsthaften Ruhe, mit der die Bauern den Tanz als eine feierliche Arbeit traktieren, und das Bauerng’wand schien unter mancher Uniform jetzt sichtbar zu werden.“  Die Konstrukteure einer authentischen Nationalkultur, die nur ein „Entweder - oder“ kennen, haben mit solchen Mehrdeutigkeiten, mit diesem Entweder und Oder, große Schwierigkeiten, Zeichen oder Symbole, die gleichermaßen in mehreren Kommunikationsräumen vorkommen, mussten daher umgedeutet, umgeschrieben, national kodiert und unmissverständlich in den „imaginierten“ nationalen Kontext inkludiert werden. Das heißt Symbole, denen eine besonders repräsentative kommunikative Funktion zukommt, können folglich ideologisch aufgeladen und für die Konstruktion von Nation instrumentalisiert werden. Und sie können auch für die Schaffung von jeweils unterschiedlichen, konträren kollektiven nationalen Identitäten eingesetzt werden. Das Doppelkreuz im slowakischen Staatswappen wird zum repräsentativen Zeichen einer slowakischen Nation, im ungarischen Staatswappen hingegen wird dasselbe Doppelkreuz zum repräsentativen Symbol für die von der slowakischen unterschiedliche magyarische Nation. Was ursprünglich ein völkerverbindendes, universalistisches Symbol war und historisch gesehen das ehemalige plurikulturelle ungarische Königreich repräsentierte, wird hier in einen jeweils gegensätzlichen nationalpolitischen Diskurs vereinnahmt. „Da der Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert das dominante Paradigma war“, meint Jan Nederveen Pieterse, „sind kulturelle Errungenschaften regelmäßig für die ‚Nation’ beansprucht, ist die Kultur ‚nationalisiert’ und territorialisiert worden. Eine andere historische Darstellung ließe sich auf der Grundlage des Beitrags konstruieren, den Diaspora, Migration, Fremde und Vermittler zur Kulturformation und –verbreitung geleistet haben.“ 

Spezifische kulturelle Konfigurationen, das heißt kulturelle Unterschiede, werden durch das Konzept von Kultur als Kommunikationsraum nicht zugunsten einer vagen Transkulturalität minimalisiert. Vielmehr wird sowohl auf die dynamischen Interaktionen als auch auf die „offenen“, jedoch immer noch sichtbaren Unterschiede zwischen kulturellen Kommunikationsräumen geachtet. Differenzen, die sich aus dem Unterschied von konkreten, gesprochenen Sprachen ergeben und kulturelle Kontexte nachhaltig determinieren, können nicht einfach wegdiskutiert werden. „Ein Kennzeichen der Semiosphäre“, meint Jurij M. Lotman, „ist ihre Heterogenität. Die Sprachen innerhalb eines semiotischen Raumes sind ihrer Natur nach verschieden, und ihr Verhältnis zueinander reicht von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit.“  Sprachliche Unterschiede sind freilich hier zunächst nicht ideologisch aufgeladen, sie werden es erst im Kontext des nationalen Narrativs.

In diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, dass Individuen oder Gruppen sich gleichermaßen in zwei oder in mehreren „Sprachen“ verständigen können, das heißt dass sie sich in unterschiedlichen oder in mehreren Kommunikationsräumen - nach Bronislaw Malinowski in „Institutionen“ – bewegen können und gerade dadurch kommunikative Abgrenzen sprengen. Daher ist eine konkrete Sprache nicht das primär differenzierende Merkmal, nicht ausschließlich identitätskonstitutiv, wie es die nationale Ideologie vorgibt. Vielmehr besitzt, nach Jurij M. Lotman, jede Kultur „Mechanismen für die Schaffung eines inneren Polyglottismus, und jede Kultur existiert realiter nur im Kontext anderer Kulturen, wobei die Beherrschung von deren Sprachen die Situation eines äußeren Polyglottismus schafft.“ 

„Offene Grenzen“ werden also dadurch sichtbar und erfahrbar, dass sich Individuen und soziale Gruppen abwechselnd oder gleichzeitig in mehreren Kommunikationsräumen, in „äußeren Polyglottismen“, vorfinden. Freilich können sich Gruppen oder Personen auch innerhalb eines relativ homogenen sprachlichen Kontextes in differenten Kommunikationsräumen, in differenten sozialen Schichten, also innerhalb eines inneren, nicht sprachlich determinierten Plyglottismus vorfinden. Ich habe diese beiden Polyglottismen zu Beginn meiner Ausführungen mit den Begriffen einer horizontalen und als einer vertikalen Differenziertheit umschrieben. Beide Formen des Polyglottismus verweisen auf gemischte, hybride Verfasstheiten, die nicht „rassisch“, ethnisch oder national definiert werden können. Weil diese eben nicht eindeutig, das heißt „national“ zuzuordnen sind, gelten sie oft als dubios und verdächtig. „So gesehen ist offensichtlich“, meint Elisabeth Beck-Gernsheim, „daß diejenigen, die die Grenzen nationaler beziehungsweise kultureller Zuordnung sprengen, schon durch ihre bloße Existenz ein gesellschaftliches Ordnungsproblem darstellen. Sie sind der Störfaktor im gesellschaftlichen Getriebe, weil sie in den gewohnten, den einfachen und eindeutigen Kategorien sich nicht abbilden lassen.“  Kultur als Kommunikationsraum ist also stets eine „hybride Melange“, sie bedeutet jedoch nicht „Multikulturalität“ als eine Totalmelange, in der Differenzen einfach verschwinden. Der Prozess der Hybridisierung erfolgt also auch durch den Austausch mit anderen, gleichfalls hybriden Kulturen.

Diese Einsicht hat auch zur Folge, dass Personen und Gruppen gemeinsame Erfahrungen haben und sich bedeutender historischer Ereignisse gemeinsam, übereinstimmend erinnern können. Zugleich können sie sich jedoch solcher Erfahrungen, selbst wenn sie derselben Gruppe angehören, auch in durchaus unterschiedlicher Weise erinnern. Das heißt unterschiedliche Erinnerungsweisen können nicht nur jene haben, die unterschiedlichen Kommunikationsräumen angehören, sondern auch jene, die sich in demselben sozial-kulturellen kommunikativen Kontext vorfinden. Geschichte wird, im Sinne der „histoire croisée“,  insofern mehrdeutig, als es über eine kollektive historische Erfahrung nicht nur die eine verbindliche Erinnerung und die eine verbindliche historische Deutung beziehungsweise Erzählung (im Singular) gibt, sondern mehrere Erinnerungen, Geschichten beziehungsweise Erzählungen (im Plural), das heißt unterschiedliche, jedoch stets gültige Varianten von Deutungen. Edward Said plädiert in diesem Sinne aus seiner Erfahrung für die Akzeptanz einer mehrfach kodierten historischen Erzählung: „Es gibt viele verschiedene palästinensische Erfahrungen, die nicht alle in einer einzigen Geschichtsschilderung zusammengefasst werden können. Deswegen müsste man parallele Geschichten der Gemeinden im Libanon, den besetzten Gebieten und so weiter schreiben. Das ist das zentrale Problem. Es ist praktisch unmöglich, sich eine einzige Geschichtsschreibung vorzustellen.“  Es sind dies Geschichten des Dazwischen, Geschichten von Zwischenräumen, Geschichten von Diasporen, die die Existenz von kontinuierlichen Migrationen und Mobilitäten widerspiegeln. Die Analyse solcher mehrdeutiger kultureller Erfahrungen und Prozesse sollte daher, wie Clifford Geertz fordert, in erster Linie darin bestehen, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“, und nicht „den Kontinent Bedeutung zu entdecken und seine nichtkörperliche Landschaft zu kartographieren.“ 

Solche hybride kulturelle Gemengelagen oder kulturelle Transiträume sind in Zentraleuropa vor allem die urbanen Milieus, in denen Personen und Gruppen, die aus unterschiedlichen Kommunikationsräumen einer horizontalen Differenziertheit stammen sich nun hier auch in verschiedenen städtischen vertikalen Kommunikationsräumen vorfinden, was die Ursache zunehmender Verunsicherungen und Krisen sein kann. Hier, in den Städten, finden performative grenzüberschreitende Prozesse statt, die zu Kreolisierungen führen, in denen der regionale Polyzentrimus im Zentrum der Stadt gebündelt erscheint, das Zentrum jedoch zugleich durch assimilatorische Tendenzen destabilisiert wird, was einem subversiven Protest gegenüber anscheinend stabilisierenden Machtkonstruktionen entspricht. Kultur ist demnach hybrid, ein kreolisierendes Ensemble, zugleich transnational, translokal, transterritorial, entgrenzt, flüssig, fließend und eben nicht homogen und essentialistisch. Wenn wir uns von der Vorstellung frei zu machen versuchen, Kultur auf nationalstaatliche oder so genannte ethnische Vorgaben zu reduzieren, wird eine Vielzahl von gegenläufigen Diskursen und Asymmetrien, zugleich jedoch auch von Vernetzungen und grenzüberschreitenden Prozessen sichtbar. Diese prägen in der Realität das Bewusstsein von Individuen und sozialen Gruppen konkreter und nachhaltiger als künstlich implementierte nationale oder nationalpolitische Vorgaben.

Kultur als Kommunikationsraum zu begreifen schließt ökonomische Aspekte nicht aus. Kommunikatives „Verhalten“ zielt ursprünglich darauf ab, als Individuum in einer Gruppe und als Gruppe in einem weiteren sozialen Kontext biologisch zu überleben: „Das richtungweisende Motiv oder der Trieb war bei all dem zunächst der Wille zum biologischen Überleben“, meinte Malinowski.  Im Marx’schen Sinne könnte man die Elemente, Zeichen, Symbole und Codes, die in einem kulturellen Kommunikationsraum zirkulieren, in einem übertragenen Sinne ebenso gut auch als Waren charakterisieren. Der „Fetisch“ dieser Waren besteht dann einerseits darin, dass sie sich einem übergreifenden gesellschaftlichen Kontext, gesellschaftlichen Vorgaben verdanken und diese reflektieren. Sie erweisen sich, wie Marx sich ausgedrückt hat, „als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“  Andererseits verlieren manche dieser Waren ihren ursprünglichen Gebrauchswert, ihren kommunikativen Tauschwert. Sie können in der kulturellen „Warenzirkulation“ überbewertet oder ideologisch aufgeladen werden, wie bestimmte Symbole, die zum Beispiel für die nationale Identitätsstiftung instrumentalisiert, also mit einem „realitätsfernen“ pathetischen Mythos umgeben werden. Sie wandeln sich also, wie Walter Benjamin meinte, zu „Phatasmagorien“. Kommunikationsräume werden von Individuen und Gruppen gebildet, die sich von ökonomischen und sozialen Zielvorstellungen leiten lassen. Kultur als Kommunikation beinhaltet folglich auch die Konkurrenz von sich rivalisierenden Personen und Gruppen und weist Sieger und Verlierer auf, solche, die sich ein ökonomisches und symbolisches Kapital anzueignen vermögen und solche, denen das nicht gelingt und die unterliegen.

Kultur als ein performativer, dynamischer, entgrenzter Kommunikationsraum impliziert gleichermaßen Kultur als ein komplexes System zu begreifen. Komplexitäten, das heißt der Koinzidenz vielfältiger Komponenten, begegnet man beispielsweise bei Verhaltensstörungen (Depressionen) oder in biologischen Systemen. Die Ergründung und Deutung solcher Komplexitäten erfordert, wie die Wissenschaftstheoretikerin Sandra Mitchell meint, einen „integrativen Pluralismus“ von Methoden, theoretischen Sichtweisen und Erkenntnisebenen. Die Thematisierung von Komplexitäten eröffnet nicht nur Untersuchungsfelder, die vorher nicht beachtet wurden und impliziert eine pluralistische Herangehensweise, die sich nicht einzig von dem Modell Ursache – Wirkung leiten lassen. Daraus folgt weiterhin, dass es nicht nur einen Weg gibt, sondern dass es mehrere richtige Wege gibt solche Komplexitäten zu analysieren, die sich in analoger Weise auch im sozialen Bereich vorfinden.  Überträgt man dieses Modell von Komplexitäten auf Kultur, dann gilt auch für kulturelle Phänomene und Prozesse, dass Ursache und Wirkung nicht eindeutig bestimmbar sind, dass beispielsweise die performative, dynamische Inklusion oder Exklusion von Elementen und Zeichen, die zu neuen, zuweilen unerwarteten performativen kulturellen Konfigurationen, Bricolagen vergleichbar,  führen, zwar wahrnehmbar sind, jedoch nicht auf nur eine Deutungsebene reduziert und von einer Deutungsebene aus erklärt werden können. Dies gilt auch für die Erforschung und Analyse von kulturellen Prozessen in der Vergangenheit. „An komplexen Systemen“, so Sandra Mitchell, „sind jedoch häufig auch Rückkoppelungsmechanismen beteiligt, die dazu führen, daß die Folgen nichtlinearen chaotischen Verhaltens verstärkt oder abgeschwächt werden; unter solchen Bedingungen versagt eine kausale Erklärung, die sich auf Addition stützt.“  Und weiter: „Das Verhalten mancher komplexer Systeme ist gekennzeichnet durch Pluralismus der Ursachen, Pluralismus der Ebenen und Pluralismus bei der Zusammenführung.“  Eben dies trifft auch auf kulturelle Kommunikationsräume zu, wenn man sie aus der Perspektive von Komplexitäten beziehungsweise komplexen Systemen zu begreifen versucht. Kultur ist nicht einfach oder eindeutig, Kultur darf nicht als essentialistische oder holistische Formation gesehen werden, so wie es bis in die Gegenwart das nationale Narrativ suggeriert und umzusetzen versucht, Kultur ist vielmehr stets dynamisch und performativ, mehrdeutig und eben komplex.

Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, zu Zentraleuropa zurück: Was leistet in Bezug auf die Interpretation dieser heterogenen Region ein solcher Kulturbegriff, im Unterschied zu einem holistischen, zum Beispiel einem nationalkulturellen Ansatz, der, zumeist unreflektiert, bis in die Gegenwart zum Beispiel bei der historischen Darstellung von – französischen, deutschen, italienischen - Erinnerungsorten dominiert? Zunächst ganz offenkundig jenen, dass er künstliche Differenzierungen, wie Nation, Ethnie, Nationalkultur und nationale Geschichte überwindet, Differenzierungen, die erst durch ein nationalkulturelles Modell errichtet werden. Kulturelle Prozesse erweisen sich vielmehr als „transnational“, transterritorial und translokal, das heißt sie respektieren keine politisch-territorialen beziehungsweise nationalpolitischen Begrenzungen. Weiters erweist sich die vielfältige sprachlich-kulturelle Heterogenität Zentraleuropas unter dem Aspekt von Kultur als Kommunikationsraum als die Summe einer Vielzahl von differenten, sich kontinuierlich konkurrenzierenden und sich überlappenden performativen kulturellen Kommunikationsräumen. Das führt zu der Erkenntnis, dass sich aufgrund des kontinuierlichen Flottierens vor allem von nonverbalen Elementen, Zeichen und Codes auch ein übergeordneter, hyrider kommunikativer Metaraum, eine, trotz der Differenz von konkreten „Sprachen“, allen verständliche „Textur“ herausbildet. Eine Stadt in Zentraleuropa, auch wenn man sie nicht kennt, kann aufgrund ihrer architektonischen Struktur oder aufgrund von ähnlichen oder analogen architektonischen Codes ohne Schwierigkeit „gelesen“ werden und Orientierung bieten. Freilich: Die am deutlichsten differenzierenden Merkmale bleiben die konkreten verbalen Sprachen. Versteht jemand den Nachbarn nicht, weil er eine andere Sprache spricht, empfindet er sich als etwas Anderes. Befindet sich jemand in einer Umgebung, deren gesprochene Sprache er nicht kennt, fühlt er sich als „Fremder“, eventuell als ein Marginalisierter; er befindet sich aber nicht sogleich in der Position, Sprache als ideologisch aufgeladenes differenzierendes Kampfmittel einzusetzen. Dem gegenüber versuchte das nationale Narrativ solche sprachlichen Differenzen nationalpolitisch zu umschreiben und zu instrumentalisieren, das heißt „Authentizität“ festzuschreiben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die kontinuierliche Konkurrenzierung der kulturellen Kommunikationsräume in Zentraleuropa seit dem 19. Jahrhundert, unter einer solchen nationalpolitischen Perspektive, fast immer zu Sprachenkonflikten führte.

Der Makrokosmos der Region spiegelt sich nicht zuletzt im Mikrokosmos seiner urbanen Milieus. Eine Geschichte dieser urbanen Mikrokosmen wäre folglich, wie Jan Nederveen Pieterse einfordert, zu Recht „eine Geschichtsschreibung der Hybridbildung von metropolitanen Kulturen, das heißt eine alternative Geschichtsschreibung, die sich gegen die imperiale wendet.“  Um das zu verdeutlichen, möchte ich nur auf einige wenige Beispiel hinweisen. Die wörtliche und metaphorische „Vielsprachigkeit“ Wiens, ein Spiegelbild der „Vielsprachigkeit“ der Region, hatte einen prägenden Einfluss auf die Mentalität seiner Bewohner. Hier war neben der modernisierungsbedingten vertikalen vor allem durch die zahlreichen Immigranten die traditionale horizontale Differenziertheit der Region wahrnehmbar. Von den 1,7 Millionen Einwohnern Wiens im Jahre 1900 waren über 50% nicht hier geboren, sondern Zugewanderte. Unter den Immigranten befanden sich 411.037 Zuwanderer (der ersten Generation) aus Böhmen und Mähren (24,5 Prozent der Bevölkerung), von denen 44,1 Prozent aus rein tschechischsprachigen, 28,6 Prozent aus überwiegend tschechischsprachigen und nur 11,4 Prozent aus deutschsprachigen Gegenden stammten. Die sich konkurrenzierenden kulturellen Kommunikationsräume wurden hier deutlich sichtbar und täglich erfahrbar; sie waren nicht nur für ein kreatives Potential mitverantwortlich, das Wien um 1900 ausgezeichnet hat, sie führten auch zu heftigen Spannungen, Krisen und Konflikten, zu individuellen und kollektiven Verunsicherungen, die kulturellen Prozessen insgesamt eingeschrieben sind. Die „Vielsprachigkeit“ der Stadt war vor allem für jene, die eine nationale Position einnahmen, wie zum Beispiel den deutschnational gesinnten Schriftsteller Eduard von Bauernfeld, ausschließlich ein Störfaktor: „Ich empfinde mich nun einmal weit mehr als Landsmann Lessings und Goethes“, so Bauernfeld, „denn irgend eines ‚Wenzel’ oder ‚Janos’ oder sonst eines Menschen auf ‚inski’, ‚icki’ und ‚vich’, mit denen mich ein politisches Schicksal zusammenschweißt und die im Grunde so wenig mit mir zu schaffen haben wollen, als ich mit ihnen“.  Die Elemente, mittels derer Individuen hier verbal und nonverbal kommunizierten, mussten freilich nicht nur zu Krisen führen, sie konnten sich auch zu einer gemeinsamen „kreolisierenden“ Sprache zusammenfügen. Das betrifft ganz konkret auch die Wiener Umgangssprache, von der die Sprachwissenschaftlerin Maria Hornung festgestellt hat: „So zahlreiche fremdsprachige Einflüsse sind im Dialekt keiner anderen europäischen Großstadt festzustellen wie hier. Bemerkenswert ist, wie Wien alle diese Beeinflussungen zu verarbeiten verstand und versteht, man denke nur an den ungeheuren Zustrom von Tschechen, der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingesetzt hat und bis zum 1. Weltkrieg anhielt ... Ein Blick ins Wiener Telefonbuch zeigt die Fülle fremder Namen: diese tschechischen, slowakischen, polnischen, ungarischen, kroatischen, italienischen und friaulischen Familiennamen haben aber nichts Fremdartiges, und deren Träger sprechen einer wie der andere unverfälscht den Wiener Dialekt.“  Diese Sprache wäre daher, wie Hugo von Hofmannsthal ausführte, die „unter allen deutschen Sprachen gemengteste“, mit Fremdwörtern durchsetzteste, aber „es sind unsere Fremdwörter, sie sind bei uns seit Jahrhunderten zu Hause und so sehr die unseren geworden, dass sie darüber in der eigentlichen Heimat ihr Bürgerrecht verloren haben.“  Richard Reichensperger versuchte nachzuweisen, wie Johann Nestroy durch die Verwendung von Fremdwörtern, die Entlehnung von Wörtern oder syntaktischen Elementen aus Sprachen, die in Wien gesprochen und mit dem Deutschen vermengt zu Mischsprachen wurden, zum Beispiel dem „Böhmakeln“ oder dem jiddischen „Mauscheln“, nicht nur auf die sprachlich-kulturelle Heterogenität Wiens, sondern ebenso auf unterschiedliche sozioökonomische und soziokulturelle Realitäten der Stadt aufmerksam machen wollte: „Auf die Stadtsemiotik umgelegt heißt das“, meinte Reichensperger, „daß Nestroy nicht nur den syntagmatischen Querschnitt durch die Stadtstruktur gibt, sondern auch den Längsschnitt, indem er verschiedene Sprachschichten herauspräpariert. Er betont also nicht nur – wie schon Stifter – die syntagmatische Achse der Stadtstruktur, sondern auch die paradigmatische. Im inneren Plyglottismus seiner Stücke, wo Sprachebenen vom Dialekt zur übertriebenen Bühnensprache und Einzelsprachen vom Tschechischen über das Italienische und Französische zum Deutschen und dazu noch die verschiedensten Fachsprachen eingesetzt werden, überführt Nestroy auch den ‚äußeren Polyglottismus’ (Lotman) der modernen Stadt, ihre Sprachmischung, in die literarische, in die sprachliche Form.“  Theodor W. Adorno hatte festgestellt, dass so genannte Fremdelemente bis ins 20. Jahrhundert ein integraler Bestandteil der Bewohner Wiens und ihrer Sprache geblieben wären, sie wurden zu konstitutiven Elementen einer Tradition, gegen die freilich immer wieder angekämpft würde: „Zu diesem Sachverhalt stimmt es, daß [...] die Fremdwörter, von denen dieser Dialekt wimmelt, jenes exterritorialen und aggressiven Wesens entragten, das ihnen sonst im Deutschen eignet. Man braucht nur einmal von einem Portier etwas von einem rekommendierten Brief gehört haben, um des Unterschieds innezuwerden, einer sprachlichen Atmosphäre, in der das Fremde fremd ist und zugleich vertraut [...].“  Adorno verortet in diese hybride Situation auch die musikalische „Sprache“ der Stadt. Er verweist auf die Symbiose unterschiedlicher, heterogener „nationeller“ Elemente, die der Nährboden des Musizierens in Wien wären. Nicht nur die expliziten italienischen Anleihen bei Mozart, bei dem die „nationellen Elemente […] sich dialektisch zueinander“ verhalten,  auch „Schuberts à la Hongroise […] trägt aber zugleich jenes Unberührte, Intentionslose, das dem Zivilisatorischen, allzu Kulturimmanenten, dem lebendigen Subjekt Entfremdeten der integralen Musik nicht sich fügt.“  Eine solche Polyglossie der Stadt, in einem wörtlichen und metaphorischen Sinne, hatte auch noch andere Konsequenzen. Die literarische Repräsentation der Stadt erfolgte hier in den Jahrzehnten um 1900, wie Stefan Simonek in einer eindrucksvollen Studie ausgeführt hat,  nicht, wie allgemein angenommen, nur durch eine deutschsprachige, sondern ebenso, zwar aus „distanzierter Nähe“, durch eine autochthone tschechische (Josef Svatopluk Machar), slowenische (Ivan Cankar), polnische (Tadeusz Rittner), kroatische (Milan Begović) oder ukrainische (Marko Čeremšyna) Wiener Literatur.

Neben Wien könnte man auch auf andere Städte der zentraleuropäischen Region verweisen. Franz Kafka zum Beispiel bewegte sich in Prag, ebenso wie seine Freunde, in überaus hybriden, sich konkurrenzierenden, jedoch sich auch stark überlappenden kulturellen Kommunikationsräumen, die für sie insgesamt identitätskonstitutiv wurden: „Franz Kafka ist, wie kein anderer“, bemerkt Leopold B. Kreitner, zwar aus der Sicht nationalkultureller Abgrenzungen, „ein Kind dreier Kulturen: der tschechischen, der deutschen und der jüdischen.“  Er sprach nicht nur deutsch, sondern verkehrte schon in seinem Elternhaus mit dem „Fräulein“ auf Tschechisch, unterhielt sich mit Verwandten (so mit der Familie seiner Schwester Ottla), Kollegen, Freunden und in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt auch auf Tschechisch; er „sprach ein gewähltes Schrifttschechisch“,  las zuweilen nur tschechische Bücher oder Zeitungen und verfasste Briefe in tschechischer Sprache.  Darüber hinaus liefen auch andere sich überlappende kulturelle „Räume“ in Kafkas Person zusammen, die für seine multipolare Identität von nachhaltiger Relevanz wurden. Ich möchte neben dem erwähnten deutsch- und tschechischsprachigen verbalen Kommunikationsraum auf Kafkas bewusste Zugehörigkeit zu dem, wie er sich ausdrückte, „uns allen gemeinsame[n] Judentum“  hinweisen. Es ist dies vielleicht eine zu allgemeine Bezeichnung, denn Kafkas teilnehmende Interessen bezogen sich gleichermaßen auf die jüdische Religion, auf die jiddische Kultur (zum Beispiel das jüdische Theater), auf die chassidischen Traditionen des Ostjudentums und insbesondere auf Zionismus, für den er große Sympathien hegte. Er lernte Hebräisch – „[…] und vielleicht läßt die Chemie auch noch etwas für Hebräisch übrig. Ich komme darin sehr langsam vorwärts […]“  -, las hebräische Schriften – „ein wenig lese ich hebräisch, in der Hauptsache einen Roman von Brenner“, und: „Sonst lese ich nur wenig und nur hebräisch […].“ 

Eine solcher „Polyglottismus“, der sich nicht nur auf konkrete Sprachen bezog, konnte natürlich auch die Ursache von tiefen Krisen und Konflikten werden, vor allem zu einer Zeit, als die nationale Ideologie solche multipolaren beziehungsweise Mehrfachidentitäten zu unterbinden suchte, nur eine, nämlich eine eindeutige nationale Identität zuließ und durch den Prozess einer inneren Kolonisierung „Fremdheiten“ zu assimilieren versuchte. Kafka nimmt in einem Brief an seinen jungen Freund Robert Klopstock aus dem Jahre 1923 – wir befinden uns bereits in der Zeit der Tschechoslowakischen Republik – direkt Bezug auf diese Situation als die Ursachen seiner inneren Konflikte und Ängste: „Und all diese Angst, über die Sie mich so ausfragen, als ob sie Sie beträfe, betrifft ja doch nur mich […]. Aber ist denn etwas gar so Merkwürdiges bei dieser Angst? Ein Jude und überdies deutsch und überdies krank und überdies unter verschärften persönlichen Umständen – das sind chemische Kräfte, mit denen ich mich anbiete, sofort Gold in Kiesel oder Ihren Brief in den meinen zu verwandeln und dabei Recht zu behalten.“  In einem aufschlussreichen Brief an Max Brod aus dem Jahre 1921 äußerte sich Kafka recht pessimistisch über einen solchen Prozess der „inneren Kolonisierung“, der nicht gelungenen Assimilierung und der daraus folgenden Konfliktsituation: Dass nämlich der „Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben […] also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß.“  Kafka umschreibt hier recht drastisch und satirisch den fehlgeschlagenen Versuch einer völligen Assimilation, oder, um mit Homi K. Bhabha zu sprechen, einer „Mimikry“, das heißt einer perfekten Nachahmung einer „fremden“ Kultur, eines sich anbiedernden, zugleich freilich auch unterminierenden Angleichens an eine anscheinend dominante Kultur.   Es ist dies eine Sichtweise, die im postkolonialen Diskurs der Gegenwart eine Rolle spielt, wo eine solche Mimikry nicht nur die Assimilation an die „koloniale“ Herrschaftskultur verdeutlicht, die die Kolonisierten beziehungsweise Marginalisierten „über-nehmen“, oder besser: sich „über-stülpen“, sondern auch die mit einem solchen Assimilationsprozess einhergehende subversive Veränderung der metropolitanen Kultur der Kolonisatoren durch die Kolonisierten, die sich dessen nicht bewusst sein müssen, hervorstreicht.

Dies alles gilt nicht nur für die Situation in Prag, es gilt auch für andere urbane Zentren der Region. „Ich stehe zwischen Deutsch und Polnisch“ bekannte der in Wien deutsch und polnisch schreibende Tadeusz Rittner resignierend. „Das heißt: ich kenne und empfinde beides. Meiner Abstammung, meinen innersten Neigungen nach bin ich Pole. Und oft fällt es mir leichter, in dieser als in jener Sprache zu denken. Aber zuweilen verhält es sich umgekehrt. Von so manchem, was ich geschrieben habe, sagen die Deutschen, es sei polnisch, und die Polen, es sei deutsch. Man behandelt mich vielfach auf beiden Seiten als Gast. Und ich sehe so vieles, hier und dort, mit dem unbefangenen Blick eines Fremden.“  Rittners Schicksal, ein gutes Beispiel für eine multipolare Identität in einem hybriden, komplexen kulturellen System, teilten mit ihm viele andere, zum Beispiel der Schriftsteller Ödön von Horváth: „Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Paß – aber ‚Heimat’? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch […]. Allerdings: Der Begriff ‚Vaterland’, nationalistisch gefälscht, ist mir fremd. Mein Vaterland ist das Volk.“

Die Vorstellung von Kultur als Kommunikationsraum versteht sich als eine Annäherung an solche kulturelle, das heißt auch sozial-politische Prozesse, die vor allem in einem dichten, komplexen kulturellen System, wie jenem von Zentraleuropa, sichtbar werden. Sie versteht sich als ein alternatives Erklärungsmodell zu jenen eindeutigen national-politischen Deutungsmustern, die seit dem 19. Jahrhundert dominant wurden und von denen sich, bewusst oder unbewusst, viele historische Analysen noch immer leiten lassen. Solche Interpretationen bleiben daher der Diktion des nationalen Narrativs verhaftet und versuchen zuweilen kulturelle Differenzen noch immer mit der Vorgabe einer essentialistischen (National)Kultur zu deuten beziehungsweise aufzuheben. Sie bedienen sich einer Sprache, eines nationalen Diskurses, mit dessen Hilfe in der Vergangenheit „nation building“ tatsächlich vorangetrieben wurde. „Die Nationalismusforschung“, meint daher der Historiker Philipp Ther zu Recht, „ist aus fachimmanenten Gründen weitgehend von demselben Telos der Nation geprägt wie die Geschichte, auch wenn sich die einzelnen Modelle für die Entstehung und Wirkung des Nationalismus unterscheiden.“  Solche Interpretationen sehen nicht oder marginalisieren die Bedeutung, die Übergängen, Zwischenräumen oder hybriden Grenzbereichen zukommen, nicht zuletzt im Hinblick auf deren kreatives Potential.

Unter dem Aspekt von Kultur als Kommunikationsraum stellt sich gerade die kulturelle Heterogenität Zentraleuropas als eine Vielzahl von nebeneinander existierenden, sich konkurrenzierenden und sich überlappenden, entgrenzten und performativen Kommunikationsräumen dar, der auch individuelle und kollektive Mehrfachidentitäten beziehungsweise Mehrdeutigkeiten entsprachen: Es wäre daher immer falsch, meinte Robert Musil im bekannten „Kakanien“-Kapitel des „Mann ohne Eigenschaften“, mit Blick auf Zentraleuropa, „die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume [...]. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.“

Trotz dieser kulturellen Heterogenität mit seinen Differenzen konnte sich hier jedoch auch, wie ich bereits angedeutet habe, ein hypostatischer, hybrider kommunikativer Metaraum, eine trotz Differenzen allgemein verständliche „Sprache“ herausbilden. Insgesamt sind dies kontinuierliche, dynamische Prozesse sowohl von Interaktionen als auch von Verwerfungen. Kulturelle Prozesse inkludieren daher naturgemäß auch permanent Konflikte, Verunsicherungen und Identitätskrisen. Eine solche Erkenntnis bezieht sich nicht nur auf kulturelle Prozesse in der Vergangenheit, sie lässt sich vielmehr auch als ein Deutungsmuster auf kulturelle Prozesse in der Gegenwart übertragen. Andererseits gründen Erklärungsversuche für eine ähnliche Situation in der Gegenwart, im Zeitalter der Globalisierung, auf Theorievorgaben, die auch auf die Vergangenheit anwendbar erscheinen und retrospektiv analoge historische kulturelle Prozesse besser einzuordnen und zu erklären vermögen. Ein solches theoretisches Rüstzeug eröffnet folglich mit seiner Perspektivenvielfalt ganz allgemein neue Sichtweisen und einen vermehrten Erkenntnisgewinn. Das heißt kulturelle Vernetzung, „Glokalisierung“, Hybridisierung oder „Melange“ sind zwar konkrete Benennungen für kulturelle Phänomene, die sich unserer Gegenwart verdanken; die Inhalte, die sie umschreiben, sind jedoch, freilich nicht unter diesen Bezeichnungen, bereits in der Vergangenheit nachweisbar,  vor allem im Kontext einer komplexen Region wie Zentraleuropa, einer „sensiblen Region“ (Oszkár Jászi), in der kommunikative Praktiken den Ablauf analoger Prozesse sichtbar werden lassen. Zentraleuropa könnte daher als ein Laboratorium angesehen werden, in dem bereits in der Vergangenheit, aufgrund der Heterogenität von sich konkurrenzierenden und überlappenden komplexen Kommunikationsräumen, kulturelle Prozesse stattgefunden haben, die heute, in einer sich globalisierenden Welt, deutlicher sichtbar und von einer allgemeinen Relevanz geworden sind. Eine Erkenntnis scheint mir dabei, wie bereits angedeutet, besonders wichtig zu sein: Kulturelle Prozesse waren schon in der Vergangenheit stets von Krisen und Konflikten begleitet. Vielleicht könnte daher eine historische Analyse von solchen Konflikten auch für die Entwicklung von Strategien, mit vergleichbaren Krisen und Konflikten in der Gegenwart umzugehen, von einem gewissen Erkenntnisgewinn sein. Vor allem dann, wenn man sich bewusst wird, dass solche Krisen und Konflikte nichts Außergewöhnliches, sondern stets inhärente Kriterien von kulturellen Prozessen darstellen.