Sonderfonds Östliches Europa
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Dankesrede Dr. Ines Koeltzsch

Ines Koeltzsch

 

 

Tripolis Praga? Eine integrierte Stadtgeschichte Prags 1918-1938

 

Dankesrede aus Anlass der Verleihung des Dissertationspreises

des Georg R. Schroubek Fonds Östliches Europa

 

München, 24. März 2011

 

„Tripolis Praga“, Prag – die „Dreivölkerstadt“, „město Čechů, Němců a Židů“ – die „Stadt der Tschechen, Deutschen und Juden“ – diese und ähnliche Beschreibungen Prags lassen sich häufig in Erinnerungen, Essays und literarischen Zeugnissen finden, die nach 1945 veröf-fentlicht wurden. Es sind Reminiszenzen an eine multiethnische Großstadtgesellschaft, die es nicht mehr gab. Zugleich knüpften sie aber an ein Prag-Narrativ an, das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. So schrieb beispielsweise der Prager jüdische Intellektuelle Felix Weltsch 1933 in einem Essay für eine deutsch- und tschechischsprachige Zeitschrift:

 

„Böhmen und insbesondere Prag liegt im Schnittpunkt vieler Kulturen. Es ist nicht nur die Grenze zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. Es ist eine wirkliche Stadt der Mitte. In ihm berühren sich aufs nächste deutsche und čechische und jüdische Kultur. Ein solcher Zusammenstoß der Geister macht wach; die sich aufdrängende Differenzierung steigert die Bewußtheit, schärft den kritischen Blick, verfeinert die Einfühlungsfähigkeit.“

 

Diesem Narrativ von der „Tripolis Praga“, das vor allem aus jüdischer Perspektive auf das kreative und konflikthafte Miteinander tschechisch- und deutschsprachiger, jüdischer und nichtjüdischer Pragerinnen und Prager verwies, stand dasjenige von einem „streng isolierten Nebeneinander zweier Kulturen“ gegenüber. In jenen Texten über den „Nationalitätenkampf“ hoben tschechische wie deutsche Autoren den Anteil des ‚eigenen Volkes‘ an der Geschichte der Stadt und ihrer kulturellen Errungenschaften hervor. Beide, sich zum Teil überlappende Prag-Narrative sind dabei reich an Metaphern, und so ist einerseits etwa von den „Brücken“, der „Symbiose“ und der „Befruchtung“ die Rede, andererseits von den „Inseln“, dem „Ghetto“ oder der „Abkapselung“. Autoren, die diese Metaphern benutzen, betonen dabei meistens die Nähe im Alltag und die Trennung im gesellschaftlichen und politischen Leben der Stadt.

Zu diesen positiv wie negativ überhöhten Prag-Bildern kommt schließlich ein drittes Narrativ hinzu, das ebenfalls seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert seine Wirkungsmacht entfaltete: Ihm zufolge wurde „matička Praha“, das „Mütterchen Prag“ als eine „rein tschechische“ bzw. „slawische“ Stadt imaginiert.

Diese hier kurz skizzierten und bis heute wirkmächtigen Wahrnehmungs- und Erinnerungsmuster gehören unweigerlich zur vorwissenschaftlichen Erfahrung einer jeden Historikerin, eines jeden Historikers, die sich mit der Geschichte Prags in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. In meiner Arbeit ging es mir jedoch nicht darum, jene Narrative als ‚Mythen‘ zu widerlegen, sondern sie als Ausdruck einer wesentlich komplexeren Realität zu verstehen. Sie stellten für mich zugleich eine Herausforderung dar, die Geschichte einer Stadt zu schreiben, über die bereits alles gesagt zu sein schien. Eine der häufigsten Fragen, die ich von Kollegen wie Laien in Anspielung auf die kaum noch zu überschauende Kafka-Forschung gestellt bekam, lautete daher auch, ob es nicht bereits Dutzende Bücher zur Geschichte der tschechisch-(jüdisch)-deutschen Beziehungen im Prag des frühen 20. Jahrhunderts gäbe.

 

***

Mit dem meiner Studie zugrunde gelegten Konzept einer „integrierten Stadtgeschichte“ (Wendland) knüpfe ich an Forschungen in der Geschichts- und Kulturwissenschaft an, die seit der Spätphase des Kalten Krieges die zerstörten multiethnischen Stadtlandschaften Ost- und Ostmittel- bzw. Zentraleuropas als Gegenstand historischer Forschung entdeckten. Diese thematische (Wieder-)Entdeckung folgte dabei einem generellen methodischen Wandel in den Sozial- und Geisteswissenschaften: Mit diesem Wandel, der gemeinhin auch als ‚cultural turn‘ bezeichnet wird, strebte die Forschung, unter anderem die Überwindung ethnozentrischer Perspektiven an, die nationale, sprachlich-kulturelle und religiöse Mehr- und Minderheiten als relativ homogene soziale Formationen postulierten. Zugleich stellte sie relativ statische Raumauffassungen, wonach die Stadt eher einem ‚Container‘ als einer Vielzahl sozialer Räume glich, in Frage.

In Anlehnung an diese methodische Neuorientierung verstehe ich daher unter einer integrierten Stadtgeschichte die Analyse sozialer und kultureller Beziehungs- und Verflechtungszusammenhänge in der Stadt, „die durch Interaktionen, Erfahrungen, Erzählungen, Bilder und Darstellungen verschiedener Gruppen aktiv hervorgebracht und verändert wird“ (Featherstone). Bezogen auf meinen Forschungsgegenstand Prag frage ich also, wie Akteure unterschiedlicher sprachlich-kultureller, nationaler und konfessioneller Zugehörigkeiten sich im urbanen Raum begegneten, in Kontakt traten oder ihn vermieden. Welche Rolle spielten bei diesen Begegnungen ethnisch-nationale bzw. sprachlich-kulturelle Selbst- und Fremdzuschreibungen? Worin unterschieden sich die jeweiligen Identitätskonstruktionen, und worin überschnitten sie sich? Und wie manifestierte sich die kulturelle Heterogenität im städtischen Raum?

Diese Leitfragen verfolge ich in vier Teilstudien über die amtliche Statistik, die Kommunalpolitik, die intellektuelle Öffentlichkeit und die Populärkultur. Die Akteure sind nicht ‚die Tschechen‘, ‚die Juden‘ oder ‚die Deutschen‘, sondern Volkszählungsexperten, Kommunalpolitiker, Intellektuelle sowie Produzenten und Konsumenten der Großstadtkultur. Die Untersuchung stütze ich dabei auf einen heterogenen Quellenkorpus, der amtliche ebenso wie publizistische und künstlerische Zeugnisse umfasst, wobei keiner Quellengattung eine Vorrangstellung in Bezug auf die historische Erkenntnismöglichkeit zugeschrieben wird.

Die amtliche Statistik und die Kommunalpolitik – die beiden ersten von mir untersuchten Kommunikationsräume – waren zweifelsohne von nationalistischen Denk- und Handlungsmustern geprägt, die im Zuge des Ersten Weltkrieges und der Republiksgründung einen weiteren Auftrieb erfuhren. Gleichwohl ließ der Zwang, sich etwa in den Volkszählungen für eine eindeutige, vornehmlich sprachlich definierte Nationalität bekennen zu müssen, diese selbst zum Problem werden. Dies wurde unter anderem in den (gemeinsamen) Diskussionen tschechisch- und deutschsprachiger, jüdischer und nichtjüdischer Experten über die von ihnen wahlweise als nationale „Fluktuation“, „Ambiguität“, „Indifferenz“ oder „Entnationalisierung“ bezeichneten Phänomene deutlich. Mit diesen Begriffen, die die Experten in erster Linie zur Beschreibung der jüdischen Bevölkerung Prags gebrauchten, deuteten sie somit indirekt die Situations- und Kontextabhängigkeit nationaler und konfessioneller Zugehörigkeiten an.

Auch die anhaltende und sich nach 1918 weiter zuspitzende Auseinandersetzung tschechisch- und deutsch-nationalistischer Kommunalpolitiker um die Präsenz der deutschen Sprache in Prag zeugte von der aufwendigen Konstruktion nationaler und sprachlich-kultureller Zuschreibungen, die den alltagskulturellen Praktiken in der Großstadt häufig widersprachen: So ließ beispielsweise der von tschechischen Nationalisten dominierte Prager Magistrat in den 1920er und 1930er Jahren mehrfach Vergnügungslokale in der Innenstadt auf den Gebrauch der „Staatssprache“ überprüfen. Dabei geriet unter anderem das am Wenzelsplatz gelegene Varieté Alhambra ins Visier der Magistratsbeamten, da es gemischtsprachige Unterhaltungsprogramme anbot. So soll ein einheimischer deutschsprachiger Komiker aufgrund seiner unzureichenden Tschechisch-Kenntnisse bei einer seiner Abendvorstellungen auf Deutsch gesagt haben „Ich quatsche nur herum, und niemand versteht mich“. Dies verstand der Magistratsbeamte als eine Beleidigung der tschechischen Sprache, die das einzige Kommunikationsmittel auf der Bühne darstellen sollte. Die in den verschiedenen Fällen hinzugezogenen Polizeibeamten wie auch die Varieté-Betreiber betonten jedoch gegenüber dem Magistrat, dass das überwiegend „tschechische Publikum“ wegen des „guten Humors“ ins Kabarett ginge und sich in seinem „Nationalgefühl“ keineswegs verletzt sehe.

Aufgrund der engen sozialen Kontakte und Verflechtungen zwischen Pragerinnen und Pragern variierender nationaler, kultureller und konfessioneller Identitätskonstruktionen entstanden in der Hauptstadt der Tschechoslowakei immer wieder Zwischenräume verdichteter Kommunikation, die ich vor allem am Beispiel der intellektuellen Öffentlichkeit und der Populärkultur untersuche. Die direkten und indirekten Kontakte zwischen tschechisch- und deutschsprachigen, jüdischen und nichtjüdischen Großstadtbewohnern schufen zwar keine Gesellschaft jenseits des Nationalen. Dennoch versuchten vornehmlich jüdische Intellektuelle, Künstler und Unternehmer mit ihren Erfahrungen der Ambivalenz in einer nach Homogenisierung strebenden nationalistischen Ordnung kreativ umzugehen. Dies unterstreichen nicht zuletzt die zahlreichen Übersetzungsprojekte deutsch- und tschechisch-sprachiger Schriftsteller wie auch die Vermittlungsbemühungen in der intellektuellen Presse der tschechoslowakischen Hauptstadt.

 

Nationale Zuschreibungen spielten in den oft flüchtigen Begegnungen in der Großstadtkultur erst Recht eine untergeordnete Rolle. Vielmehr bestimmten Kriterien wie die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, das Geschlecht und das Alter den Zugang zu den diversen Orten des Vergnügens und Konsums. Dies lässt sich unter anderem an der 1931 gedrehten Filmkomödie Muži v offsidu – Männer im Abseits veranschaulichen, die zu einem Kassenschlager in der Hauptstadt avancierte. Dabei fand die Geschichte des Prager Konfektionswarenhändlers und „Fußballfanatikers“ Richard Načeradec, der von Hugo Haas, einem Schauspieler des Tschechischen Nationaltheaters darge¬stellt wurde, in der tschechisch- wie deutschsprachigen Hauptstadtpresse eine positive Aufnahme. Die Prager Abendzeitung schrieb beispielsweise in ihrer Filmkritik, die in Anlehnung an das Tschechische den Titel Der Fanoušek-Film trug:

 

„Prag erkennt sich auf der Leinwand wieder. Bei dem Ansturm auf die 11er Linie, bei den homerischen Wortschlachten auf dem Fußball-Schlachtfeld, durch die Grammophonapparate im Handkofferstil und in erster Linie durch das von ‚Fanoušismus‘ durchsetzte Familienleben des Konfektionärs Natscheradetz. Hugo Haas als ‚der Prager Konfektionär‘ hat hier eine Gestalt geschaffen, die dem selbstverständlichen Erfolg des Films noch die künstlerische Note verlieh. Humorvoll, immer aufgeregt und immer wieder resigniert, ist dieser Natscheradetz, unaufdringlich und populär in Wort und Bewegung, echt bis in die Fingerspitzen.“

 

Natscheradetz, alias Hugo Haas, wird hier also als eine Figur beschrieben, mit der sich viele Prager identifizieren konnten, egal welche Sprache sie sprachen oder welcher Nationalität beziehungsweise Konfession sie sich zugehörig fühlten.

 

***

Der Blick auf die vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen Kontakte und Begegnungen im Prag der Ersten Republik und somit auf die Situations- und Kontextabhängigkeit nationaler Identitätskonstruktionen blieb in der historischen Prag-Forschung lange Zeit verstellt. Es dominierte das Bild „zweier scharf geschiedener Nationalgesellschaften“, wobei man den Jüdinnen und Juden als ‚Grenzgängern‘ eine zwar nicht unbedeutende, aber dennoch marginale Rolle zuschrieb. Dieser Perspektive gab die Durchsetzung eines weitgehend homogenen Nationalstaats nach 1945, dem die nationalsozia¬listische Herrschaft und die Shoah vorausgegangen war und der durch die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der deutschen Pragerinnen und Prager möglich wurde, scheinbar Recht.

Mit dem Ansatz einer integrierten Stadtgeschichte – so lautet das Fazit meiner Arbeit – kann es jedoch gelingen, diese eindimensionale, einseitig auf das Scheitern gerichtete Perspektive zu überwinden und die weitgehend unsichtbaren, „mehrdeutigen“ und „mehrsprachigen“ Spuren des tschechisch-jüdisch-deutschen Zusammenlebens vor dem Zweiten Weltkrieg im „Gedächtnis der Stadt“ (Csáky) freizulegen.

 

 

 

Dr. Ines Koeltzsch

New York University in Prague

Male Namesti 2

CZ-11000 Prag 1