Sonderfonds Östliches Europa
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Rede Prof. Dr. Gertrud Pickhan

München, 24. März 2011

 

 

Sehr geehrter Herr Dekan, lieber Herr Roth, meine Damen und Herren, liebe Ines,

 

es ist mir eine große Freude, heute Abend im Rahmen der Preisverleihung an Ines Koeltzsch als ihre „Doktormutter“ zu Ihnen zu sprechen. Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: „O Prag, du tolle, du feierliche Stadt, du Stadt der Märtyrer, der Musikanten und der schönen Mädchen“.  Dieser Lobpreis auf die Stadt, die auch im Zentrum der Dissertation von Ines Koeltzsch steht, findet sich in Wilhelm Raabes Erzählung „Holunderblüte“, die ich im Herbst des Jahres 1974 im Gepäck hatte, als ich zum ersten Mal nach Prag kam und gleichsam geführt von Wilhelm Raabe den alten jüdischen Friedhof, das „Haus des Lebens“ besuchte. Es war dies meine erste Begegnung mit dem östlichen Europa und seinen jüdischen Spuren – in einer Zeit, in der eine ganz andere Melancholie über der Stadt lag als die, die Raabe rund 100 Jahre zuvor beschrieben hatte. Gleichzeitig gingen in meiner Wahrnehmung Prags Gegenwart und Geschichte unweigerlich ineinander über - die Aura der „alten, wundervollen Stadt“, so Raabe, wirkte noch lange nach und wurde im Nachhinein intensiviert durch eine andere Prag-Geschichte, Leo Perutz’ „Nachts unter der steinernen Brücke“. Perutz wie Raabe nahmen das vorweg, was auch Ines Koeltzsch in ihrer Dissertation auf ebenso eindrucksvolle wie einfühlsame Weise gelungen ist: das historische Prag als Schauplatz multiethnischer Verflechtungen und Interaktionen wieder aufleben zu lassen und die gedachten Grenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen durchlässig zu machen.

So sind auch die eingangs zitierten Musikanten und schönen Mädchen bei Raabe zunächst nicht ethnisch codiert, auch wenn es im Folgenden das jüdische Mädchen Jemima und die jüdische Tänzerin Mahalath sind, die für den Zauber Prags stehen. Um diesen Zauber für mich zu bewahren, diese Aura nicht durch wissenschaftliche Analysen zu zerstören, wandte ich mich in meinen Forschungen zur osteuropäisch-jüdischen Geschichte in der Folgezeit anderen Regionen zu und sparte Prag dabei aus. Vielleicht war dies auch der Hintergrund dafür, dass ich zunächst skeptisch reagiert, als mir Ines Koeltzsch als meine neue Mitarbeiterin und Doktorandin vor einigen Jahren ihr geplantes Dissertationsprojekt präsentierte. Prag in der Zwischenkriegszeit, „Masaryks Prag“, wie es Peter Demetz nennt, der Mythos der Goldenen Stadt in der Moderne -  was sollte es auf diesem Feld noch Neues geben? Jedoch ließ ich mich zu meinem Glück von Ines Koeltzsch überzeugen und begleitete sie auf ihrer Zeitreise in eine Welt, die vom Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch einer weitgehenden nationalen Homogenität und der Komplexität multiethnischer Bevölkerungskonfigurationen geprägt war. Ines Koeltzsch nahm dabei die historischen Akteure und ihre multiplen Selbstverortungen in den Blick. In ihrer Studie zeichnet sie das tschechisch-jüdisch-deutsche Beziehungsgeflecht der Zwischenkriegszeit mit seinen vielen Knotenpunkten und Verbindungslinien nach. Die große Leistung von Ines Koeltzsch liegt vor allem darin, dass sie diesen integrativen Ansatz in ihrer Studie durchgängig beibehält und gleichzeitig die Konstruktionsprozesse kollektiver Identitäten mit der individuellen Erfahrungs¬ebene ihrer Protagonisten abgleicht. Sie zeigt auf, dass auch die Moderne urbane Räume erzeugte, in denen die ethnische Zugehörigkeit in den Hintergrund trat. So bot die moderne Großstadt mit ihren Massenmedien und Begegnungsorten vielfältige Kontakt- und Kommunikationsräume, in denen auch Pluralität und Diversität ihren Platz hatten. Dies änderte sich schlagartig 1938 und endete mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung Prags 1941. Umso bedeutsamer ist die sorgfältige und sensible Rekonstruktion einer im Zweiten Weltkrieg untergegangenen Stadtkultur, die von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprachen und Konfessionen geprägt wurde.

Jüdische Pragerinnen und Prager waren, wie Ines Koeltzsch eindringlich heraus¬arbeitet, integrale Bestandteile dieser Stadtkultur. Gleichzeitig waren sie mehr als andere der Erfahrung von Ambivalenzen und Ausgrenzungen ausgesetzt. Erst nach der Lektüre der Studie von Ines Koeltzsch wurde mir bewusst, dass sich dies in den Prag-Erzählungen Raabes und Perutz’ widerspiegelt: Holunderblüte, Rosmarinstrauch und Rose können auch als Metaphern für eine andere Wahrnehmung der Pragerinnen und Prager stehen, in der ethnische Zuschreibungen ihre alles dominierende Bedeutung verlieren.

Ines Koeltzsch hat mit ihrer Dissertation eine Studie vorgelegt, die höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und heute Abend durch den Georg R. Schroubek-Preis gewürdigt wird. Mir hat sie zudem zu völlig neuen Einsichten und Interpretationen jener literarischen Werke verholfen, die am Anfang meiner Beschäftigung mit der Geschichte der multiethnischen Stadt- und Kulturlandschaften des östlichen Europa standen. Dafür, liebe Ines, gilt Dir mein ganz besonderer Dank!

 

Prof. Dr. Gertrud Pickhan

Freie Universität Berlin

Osteuropainstitut

Garystr. 55

D-14195 Berlin