Sonderfonds Östliches Europa
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Dankesrede Martina Niedhammer und Inna Klause

Dankesrede der Preisträgerinnen Inna Klause und Martina Niedhammer

Sehr geehrter Herr Dekan, sehr geehrter Herr Professor Roth, sehr geehrter Herr Professor Bohn, lieber Herr Brenner, sehr geehrter Herr Professor Weiss, meine Damen und Herren,

anders als bei früheren Verleihungen wurde der Schroubek-Dissertationspreis in diesem Jahr geteilt – und so fällt uns beiden die Ehre zu, auf die Verleihung gemeinsam mit einer Dankesrede zu antworten. Wir möchten bei dieser Gelegenheit auf die verbindenden Elemente unserer beiden räumlich und zeitlich sehr verschieden gelagerten Arbeiten zu sprechen kommen: die Motivation für unsere Dissertationen, die Rolle der Alltagsgeschichte als einer Schlüsselmethode unserer beider Arbeiten und die Sichtbarmachung einer Geschichte des östlichen Europas für ein deutschsprachiges Publikum.

Die heutige Verleihung des Schroubek-Dissertationspreises ist für uns nicht nur ein freudiges Ereignis, das uns mit Stolz und Dankbarkeit erfüllt. Sie markiert zugleich auch das Ende eines Lebensabschnittes, der Zeit der Dissertation, die wir gleichermaßen als Chance wie auch als Herausforderung begriffen haben. Sicherlich war es ein Privileg, sich über mehrere Jahre hinweg mit einem eigenen Projekt weitgehend unbehelligt und frei von anderen Pflichten beschäftigen zu können. Gleichzeitig war es manchmal keine geringe Herausforderung, die eigenen, selbstgesteckten Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Vor allem aber war es eine spannende, bewegende Zeit, bei der wir gerade im Zuge unserer Recherchen viele einprägsame Begegnungen mit Menschen, aber auch mit stillen papierenen Zeugen hatten. Vieles davon wird uns für immer in Erinnerung bleiben, so z. B. mir die Begegnungen mit dem Moskauer Literaten und Herausgeber Semen Vilenskij, der als Student verhaftet wurde und 7 Jahre lang im Gulag inhaftiert war, heute 84 Jahre alt ist und in seiner Wohnung in zwei großen Schränken Manuskripte mit Erinnerungen ehemaliger Gulag-Häftlinge aufbewahrt. Oder mit Lidija Jagunova, die aus der russischen Exklave Harbin in China stammt und ihrem Mann, der den Gulag überlebt hatte, ins ferne und ihr völlig unbekannte Magadan nachgereist ist, um dort ein neues Leben zu beginnen. Unvergesslich bleiben werden mir auch die Momente, in denen ich Handschriften mit Noten, die im Gulag komponiert wurden, sehen durfte, die zum Teil auf abenteuerlichen Hintergründen, wie Telegrammvordrucken, niedergeschrieben waren. Besonders berührt haben mich auch die Reisen zu den Schauplätzen des Gulag – nach Magadan und Umgebung, nach Perm, auf die Solovki oder zum Weißmeer-Ostsee-Kanal, denn Orte können Geschichte veranschaulichen, auch wenn dort heute zum Teil nur wenige Spuren zu finden sind.

Aus der Fülle der Selbstzeugnisse, die ich für meine Biographie ausgewertet habe – darunter Briefe, Tagebuchauszüge und Eingaben an Behörden – ist mir besonders ein maschinengeschriebenes Konvolut in Erinnerung geblieben, in dem der Hamburger Staatsrat und Vorsitzende der dortigen Kultusgemeinde Leo Lippmann seine Familiengeschichte niedergeschrieben hat. Kurze Zeit, bevor er seinem Leben 1943 ein Ende setzte, um der bevorstehenden Deportation durch die Nationalsozialisten zu entgehen, stellte er biographische Dokumente seiner Prager Vorfahren zusammen. Damit wollte er seine Familie vor dem Vergessen bewahren und seinen Nichten und Neffen, wie er sagte, zeigen, „dass sie stolz auf ihre Vorfahren sein können, und dass sie die Kindeskinder von durchweg edlen und tüchtigen Menschen sind“.[1] Auf Umwegen gelangte dieses Typoskript nach dem Krieg nach New York in das Leo Baeck Institute, die zentrale Dokumentationsstätte für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums und war für mich eine wertvolle Hilfe bei der Rekonstruktion des Alltags einer großbürgerlichen Prager jüdischen Familie um 1840.

Man könnte daher sagen, dass es auch das Bestreben ist, Menschen hinter den Quellen zu entdecken, das unsere beiden Arbeiten verbindet und ihr Entstehen mit motiviert hat: Menschen können aus der Vergessenheit „herausgeholt“ werden, wenn ihr Schicksal versprachlicht wird und so eine Stimme bekommt. Musiker, die in den weitaus meisten Fällen unschuldig zu einer Haft im Gulag verurteilt wurden, konnten im Lager die Fähigkeit zu musizieren zum Überleben nutzen, indem sie Mitglieder von Lagerensembles, -orchestern oder -theatern wurden und sich so von der Allgemeinheit der Häftlinge abhoben. Ihre Namen erscheinen in Konzertprogrammen, Zeitungsrezensionen, lagerinternen Befehlen und anderen Quellen. Es gab unter ihnen jedoch auch solche, die das Musizieren im Lager verweigerten, um dem Gulag-System nicht zu dienen, wodurch ihr Schicksal dort nicht mehr sichtbar gemacht werden kann – sie sind im Gros der Häftlinge untergegangen. Die langjährigen Haftzeiten, das Herausgerissen-Werden aus den gewohnten Strukturen und zunächst Leere und Perspektivlosigkeit nach der Haft treffen auf die meisten Akteure meiner Arbeit zu. Bewundernswert ist, auf welche Weise viele ehemalige Häftlinge sich mit den neuen Verhältnissen arrangierten und oftmals, weil sie nicht in Großstädten leben durften, in der Provinz für ein reges Musikleben sorgten. Dies ist in der russischen Musikgeschichtsschreibung bis heute nicht genügend gewürdigt worden. Auch ein Blick in das uns freilich viel fernere frühe 19. Jahrhundert legt solche Lücken in der Forschung offen. Vor 1848 besaßen die böhmischen Juden keine staatsbürgerlichen Rechte und schienen in vielerlei Weise von der nichtjüdischen Gesellschaft abgetrennt. Kleinen Dingen des Alltagslebens, wie etwa dem Wunsch, ein Geschäft zu eröffnen oder innerhalb der Heimatstadt Prag umzuziehen, stand oftmals eine rigide Gesetzgebung im Weg, so dass als Ausweg meist nur Bittgesuche an die Obrigkeit blieben. Sie geben ein beredtes Zeugnis von den Nöten und Schwierigkeiten ihrer Schreiber, aber auch von den Vorurteilen und Stereotypen, die die Adressaten in ihren Antwortschreiben offenlegten. Mochten jüdische Großhändler und Fabrikanten ihre Verdienste um die heimische böhmische Industrie auch mit noch so leuchtenden Worten schildern – die Obrigkeit war meist skeptisch und zweifelte am Nutzen dieses Engagements für das Staatswohl, das sie doch selbst so vehement von ihren jüdischen Untertanten einforderte. Die jüdische Öffentlichkeit wiederum monierte in Gestalt der Presse die vermeintlich mangelnde Bindung jüdischer Großbürger an das Judentum und unterstellte wiederholt, dass sie um des gesellschaftlichen Aufstiegs willen bereit seien, die Religion ihrer Vorfahren aufzugeben. Tatsächlich versuchten Angehörige des Prager jüdischen Großbürgertums jedoch, einen eigenen Weg zu finden, der ihre heterogenen gesellschaftlichen Umfelder vereinte. Um diese hier nur kurz angerissenen Zusammenhänge zu ergründen, haben wir uns auf die Rekonstruktion des jeweiligen Alltags unserer Akteure konzentriert und versucht, mikrohistorisch zu arbeiten.

Es freut uns besonders, den Georg R. Schroubek-Dissertationspreis für unsere Arbeiten zu erhalten, denn die „ausgeprägte Vorstellung [des Stifters] von der gesellschaftlichen Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit“[2] ist auch unser Anliegen. Wir beide haben versucht, Texte zu verfassen, die sich nicht ausschließlich an ein historisches Fachpublikum richten. Auch der Versuch Georg Schroubeks, „verschiedene Disziplinen miteinander ins Gespräch zu führen“,[3] lässt sich in unseren Projekten wiederfinden: So wollte ich eine Verbindung zwischen der Jüdischen Geschichtsschreibung, die in Deutschland recht wenig zu Ostmitteleuropa forscht und der traditionellen Osteuropäischen Geschichte schlagen, die die jüdische Minderheit häufig nur am Rande oder aber mit Fokus auf Russland untersucht. Daraus ist eine Gruppenbiographie entstanden, die ich nicht anhand einzelner, meist nur rudimentär überlieferter Lebensläufe, sondern entlang von Orten im Prager Stadtraum erzähle, um dem Leser die Lebenswelten der räumlich stark beschränkten Prager Juden etwas vor Augen führen zu können.

Mein Bestreben war es, Quellen, mit denen eher die Osteuropäische Geschichte arbeitet, für die Musikwissenschaft fruchtbar zu machen. Unterlagen der Lagerhauptverwaltung, Berichte aus den einzelnen Lagern über die dort stattgefundene Kulturarbeit, Befehle der Lagerleiter oder Lagerpresse – all diese Quellensorten waren bislang kein Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung, enthalten aber aufschlussreiche Informationen für die Musikgeschichtsschreibung. So konnte durch das Heranziehen dieser Quellen die in der Musikwissenschaft verbreitete Ansicht dementiert werden, dass Musiker unter Stalin weniger gelitten hätten als andere Künstler.

Bei dieser Gelegenheit möchten wir unseren Betreuern noch einmal für ihre große Unterstützung danken. Und wir möchten uns für die Anerkennung unserer Arbeit ganz herzlich bei der Auswahlkommission bedanken; wir fühlen uns durch den Preis bestärkt und beflügelt für neue Projekte.

[1] Leo Baeck Institute New York, Salomon Benedict Goldschmidt Family Collection, folder 3, AR 100, Lippmann, Leo: Die Vorfahren meiner Ehefrau Anna Josephine Lippmann geb. von der Porten. [Hamburg] 1939 [masch.], 2.

[2] Epitaph für Georg R. Schroubek von Prof. Dr. Helge Gerndt. 24.05.2011. http://www.schroubek-fonds.volkskunde.uni-muenchen.de/aktuelles/news/epitaph/index.html (letzter Zugriff am 09.04.2013).

[3] Ebd.