Sonderfonds Östliches Europa
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Festvortrag Prof. Dr. Thomas Bohn

Prof. Dr. Thomas Bohn, Universität Gießen

Festvortrag zur Verleihung der Georg R. Schroubek Dissertationspreise 2013

Vom „Schalmeibläser“ zum „bemalten Vogel“. Metaphern als Inspirationen für die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem östlichen Europa

„Erkundungen und Annäherungen“ lautet das Motto des Sonderfonds Östliches Europa, der mit dem Namen Schroubek verbunden ist. „Erkundungen und Annäherungen“ haben auch die beiden diesjährigen Preisträgerinnen auf ihre je eigene Weise unternommen. Martina Niedhammer setzte sich mit der Lebenswelt der Prager Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auseinander, Inna Klause mit dem Schicksal von Musikern im GULag. Der thematische Bogen zwischen beiden Dissertationen ist weit gespannt. Chronologisch langt er vom Wiener Kongress bis zum 20. Parteitag der KPdSU oder von der europäischen Restauration bis zum sowjetischen Tauwetter, geographisch von der Moldau nach Kolyma oder von den böhmischen Dörfern bis in die sibirische Weiten, inhaltlich von den Vorstellungen der Romantik bis zu den Auffassungen des Sozialistischen Realismus oder von der jüdischen Identität bis zum stalinistischen Terror. „Erkundungen und Annäherungen“ möchte auch ich mit meiner Rede auf das Programm des heutigen Festakts setzen. Es geht mir um die Sondierung eines Terrains, das von einem bunten Reigen umrissen wird, in seinen Konturen aber schemenhaft bleibt. Im Sinne Georg Schroubeks lautet die Aufgabe, die Schattenseiten des östlichen Europa zu beleuchten und das Selbstverständnis seiner Repräsentanten jenseits westlicher Zuschreibungen zu erkunden.

Ethnologische Expeditionen verheißen die Entdeckung von Neuland und der Füllung weißer Flecken, stellen sich für den Laien aber mitunter als gewagte Experimente dar. Als Russland- und Sowjetunionhistoriker fällt mir spontan Leonid Gajdajs humoristischer Film „Die kaukasische Gefangene“ aus dem Jahre 1967 ein. Ein junger Volkskundler namens Schurik bereist den Kaukasus, um Sitten und Gebräuche zu dokumentieren. Bei seinen Feldstudien wird der erklärte Abstinenzler in einen Brautraub verwickelt, der sich für ihn als Liebesgeschichte erweisen soll. Hingegen beschränkt sich der wissenschaftliche Ertrag seines Unternehmens im Wesentlichen auf das notgedrungene Erlernen von Trinksprüchen. Darauf kommen wir später noch zurück. – Um nicht in Versuchung zu geraten, dem Orientalismus zu frönen, der durch die filmische Inszenierung des Wilden Ostens vorgenommen wird, möchte ich an dieser Stelle den Fokus auf eine weniger verfängliche Region richten und in literarischen Metaphern Inspirationen suchen. Damit sollen die virtuellen Voraussetzungen für eine historische Zeitreise geschaffen werden. Als Referenzpunkte aus den Dissertationen der beiden Preisträgerinnen erschließen sich die ostjüdische Lebenswelt des „langen“ 19. Jahrhunderts und die totalitären Regime im zweiten Drittel des „kurzen“ 20. Jahrhunderts. Zur Verklammerung von Phänomenen, die sich auf den ersten Blick nur mittelbar auf einander beziehen, dienen mir der „Schalmeibläser“ von Jakub Kolas und der „Bemalte Vogel“ von Jerzy Kosiński.

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Was ich veranschaulichen will, sind die sozialen Metamorphosen, die sich in der Übergangsregion von Mittel- nach Osteuropa im Prozess der sowjetischen Modernisierung zugetragen haben. Es geht um die Zwischenräume von Deutschland und Russland in einem weiteren Sinne oder um die Kontaktzone von Polen und Belarussen in einem engeren Sinne. Ich möchte die Perspektive auf die Wald- und Sumpfgebiete Podlachien und Polesien richten, die je nach Kontextualisierung unterschiedliche Bezeichnungen erfahren haben. In der Frühen Neuzeit stellten sie sich als „Sarmatische Landschaften“ dar, in der Neuzeit als „Ansiedlungsrayon“ und in der Zeitgeschichte als „Bloodlands“. Bei den „Sarmatischen Landschaften“ handelt es sich um ein Bild des Dichters Johannes Bobrowski, das der Publizist Martin Pollack vor einigen Jahren zum Titel eines Sammelbandes mit Beiträgen junger Autoren aus Litauen, Polen, Weißrussland und der Ukraine erkoren hat. Angeknüpft wird damit an die Ideologie des Adels in der Polnisch-Litauischen-Union, der sich auf das antike Reitervolk der Sarmaten berief, um dem Föderalismus und dem Freiheitsgedanken zu huldigen. Als „Bloodlands“ bezeichnete Timothy Snyder unlängst die Territorien des ehemaligen Ansiedlungsrayons für die jüdische Bevölkerung des Zarenreichs, die im Zweiten Weltkrieg zum Schlachtfeld der Diktatoren Hitler und Stalin mutierten. Stalinistischer Terror und Zwangskollektivierung sowie nationalsozialistische Okkupation und Holocaust verhießen Hungertod, Deportation und Völkermord. Gegensätzlicher als „Sarmatische Landschaften“ und „Bloodlands“ können Erinnerungsorte nicht sein. Sie konstituieren sich aus der Überlagerung von romantischen Nostalgien und traumatischen Erfahrungen.

In historischer Perspektive repräsentieren Podlachien und Polesien die Lebenswelten des polnischen Landadels (der Szlachta), der russischen Beamten, der jüdischen Händler und der weißrussischen und ukrainischen Bauern. Das Verschwinden dieser Milieus ist nicht nur dem GULag und dem Holocaust geschuldet, sondern hängt auch unmittelbar mit der Industrialisierung und Urbanisierung sowie der Russifizierung und Sowjetisierung zusammen. Was ich als außen stehender Beobachter oder retrospektiver Rezipient kommentieren möchte, ist die Verwandlung von Einheimischen in Sowjetmenschen respektive die Mutation von „Hiesigen“ zum „Homo Sovieticus“. Dazu gilt es zwei Zeitfenster zu öffnen, deren Horizonte über Schlüsseltexte entziffert werden sollen. Das erste Zeitfenster bezieht sich auf Entwicklungen vor dem Ersten Weltkrieg und ist mit einer Erzählung von Jakub Kolas verbunden, das zweite Zeitfenster reflektiert Vorgänge des Zweiten Weltkrieges und erschließt sich über einen Roman von Jerzy Kosiński. In beiden Fällen ermöglichen attributive Ergänzungen zu den Haupttexten Ausblicke auf die sowjetische Geschichte, die einerseits auf die Revolutionskultur der zwanziger Jahre und andererseits auf das kulturpolitische Tauwetter der fünfziger Jahre verweisen.

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Zeitfenster I: Der Schalmeibläser. Jakub Kolas‘ Erzählung „Der Schalmeibläser“ (Dudar) lässt sich als Allegorie auf die Geschichte Weißrusslands lesen. Der Autor Kanstancin Mickevič wurde 1882 als Sohn eines Waldhüters auf einem Gehöft südwestlich von Minsk geboren. Das Pseudonym Kolas bedeutet „Ähre“ und signalisiert die Affinität zur bäuerlichen Welt. Vor dem ersten Weltkrieg arbeitete der Autor als Lehrer und engagierte sich in der weißrussischsprachigen Zeitschrift Naša niva („Unsere Flur“), dem Flaggschiff der belarussischen Nationalbewegung. Die aus dem Jahre 1906 stammende Erzählung „Der Schalmeibläser“ wurde 1921 in dem Zyklus „Märchen des Lebens“ wiederveröffentlicht. Jakub Kolas wurde 1928 zum Vizepräsidenten der belarussischen Akademie der Wissenschaften berufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der hochdekorierte Schriftsteller als Abgeordneter im Obersten Sowjet zu politischen Ehren, bevor er 1956 verstarb, ohne von der Entstalinisierung noch etwas mitzubekommen.

Die Erzählung „Der Schalmeibläser“ handelt von der Begegnung dreier Brüder. Dem jüngsten Bruder war das bitterste Los zuteil geworden. Das Schicksal hatte für ihn das unfruchtbarste Land vorherbestimmt. Wald und Sümpfe isolieren ihn von der Welt. Frieden findet er in seiner Vereinsamung in traurigen Liedern, insbesondere beim Spiel der Schalmei. Durch seinen Bauernkittel und seine Bastschuhe unterscheidet er sich äußerlich von seinen Brüdern. Während sich der älteste Bruder durch fabrikgeschneiderte Kleidung und Stiefel auszeichnet, trägt der mittlere in folkloristischer Manier weiße Pluderhosen und eine hohe Mütze. Der große Bruder führt das Gespräch. Wenn der kleine Bruder zu Worte kommt, dann wird er wegen seiner Redeweise verspottet. Zu guter Letzt rechtfertigt er sich nach biblischem Vorbild mit einem Gleichnis: Ein Herr setzte einen Schalmeibläser in ein Verließ und forderte ihn zum Spielen auf. Sollten die Töne die Mauern durchbrechen, sei er berechtigt, den Menschen seine Lieder vorzusingen und der Welt seine Gedanken mitzuteilen. Wie nicht anders zu erwarten, ließ sich kein Klang vernehmen. Daher waren die traurigen Weisen fortan dazu verdammt, im öden Feld, im Sumpf und im Wald zu verhallen. Mit diesen Worten appelliert der jüngste Bruder an die beiden älteren, gemeinsam nach dem Glück zu streben, aber unterschiedliche Wege und Artikulationsformen zu tolerieren.

Wer sind die drei Brüder? Wer ist der Schalmeibläser? Woher stammt er? Wie lebt er? Wieso jammert er? Warum befreit er sich nicht aus seiner Notlage? Der erste Bruder verkörpert den Typus des Intellektuellen, der zweite denjenigen des Kosaken und der dritte denjenigen des Bauern. Sie symbolisieren die Gestalten „Rossija“, „Ukraina“ und „Belarus‘“. Von den Landesbezeichnungen ausgehend müsste eigentlich von drei Schwestern gesprochen werden. Der Schalmeibläser ist jenseits der ukrainischen Schwarzerdeböden in einer von Sumpf und Wald geprägten Landschaft im Einzugsbereich des Pripjet-Flusses beheimatet. Er betreibt eine Subsistenzwirtschaft und führt ein Leben in Rückständigkeit. Die von der zarischen Zensur dominierten Herrschaftsverhältnisse erlauben ihm weder die Pflege seiner Muttersprache noch die Partizipation an den politischen Entscheidungen. Für die Aussöhnung mit Gott und der Welt verbleibt ihm neben der asketischen Lebensführung nur das Klagelied der Schalmei. Schenkt man dem Schweizer Kinder- und Jugendpsychologen Heinz Herzka Glauben, dann ist die Schalmei ein mythenumwobenes Musikinstrument. Sie wird von religiösen und staatlichen Autoritäten wegen ihres magischen Klangs geächtet. Schalmeibläser „lebten oft am Rande der Gesellschaft, wirkten im Verborgenen als Partisanen der Musik, als Vertreter von Grenzüberschreitungen im Alltag“. Subtiler kann belarussische Identität nicht beschrieben werden.

Die Geschichte der Belarus‘ im eigentlichen Sinne reichte von der Konstituierung der Adelsrepublik in Polen-Litauen und dem Beginn des weißrussischen Bibeldrucks im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts bis zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und dem Holocaust in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es handelte sich um eine Kontaktzone, in der weißrussische Bauern, jüdische Händler, polnische Gutsbesitzer und russische Staatsbeamte interagierten. Die Landschaft erhielt ihre kulturellen Prägungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit durch das Großfürstentum Litauen und die polnischen Adelsrepublik sowie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vom zarischen und sowjetischen Imperium. Auf Traditionen eigener Staatlichkeit kann die 1991 gegründete Republik Belarus, von einem Intermezzo im Bürgerkriegsjahr 1918 abgesehen, nur in Bezug auf die Proklamation einer Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) in den Jahren 1919/20 zurückblicken.

Unter dieser Prämisse verdient die Wendung Aufmerksamkeit, die Jakub Kolas der Erzählung vom „Schalmeibläser“ mit einer aktualisierten Fassung im Jahre 1922 verlieh. Der Schalmeibläser präsentiert sich diesmal in der Rolle eines Volkstribunen, der aufgrund seiner Rechtschaffenheit ein Massenpublikum zu begeistern weiß. Als ein Herr ihn auf die Probe stellen will, verweist er selbstbewusst auf die Gesetze der Natur. Und in der Tat trägt der Wind die Klänge der Schalmei diesmal über die Mauern hinaus bis zu den Menschen. Der Schalmeibläser wird befreit und der Herr stattdessen eingekerkert. Von den älteren Brüdern ist in der Erzählung nicht mehr die Rede. Sie haben angesichts der Konstituierung einer weißrussischen Sowjetrepublik ausgespielt. Bedenkt man, dass sich die BSSR in den zwanziger Jahren auf der Grundlage einer Gleichrangigkeit der russischen, polnischen, belarussischen und jiddischen Sprache konstituierte, dann kommt man nicht umhin, Kolas vorzuwerfen, einen wichtigen Faktor unterschlagen zu haben. In seinen Überlegungen spielte die Welt der Städte keine Rolle, weil die ethnischen Weißrussen fast ausschließlich auf dem flachen Land lebten. Die Belarus‘ wurde in dieser Zeit aber noch wesentlich von der Kultur der ostjüdischen Schtetl geprägt. Daher darf bei der Lektüre des „Schalmeibläsers“ das Bild eines anderen Musikanten nicht außer Acht gelassen werden, nämlich dasjenige des „Fiedlers auf dem Dach“ von Marc Chagall, der damit seiner Heimatstadt Vitebsk eine Hommage erwies.

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Zeitfenster 2: Der bemalte Vogel. Der 1965 in den USA veröffentlichte Roman von Jerzy Kosiński „The Painted Bird“ über das Schicksal eines untergetauchten Jungen im östlichen Polen während des Zweiten Weltkrieges wurde vom Publikum zunächst noch als autobiographisch gelesen. Kosiński wurde 1933 als Józef Lewinkopf in einer jüdischen Familie in Łódź geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er in seiner Heimatstadt Soziologie und Geschichte. Im Umfeld des 20. Parteitages der KPdSU von 1956 hielt er sich als Doktorand der polnischen Akademie der Wissenschaften in Moskau auf. 1957 emigrierte er in die USA, wo er zu Beginn der sechziger Jahre unter dem Pseudonym Joseph Novak zwei soziologische Studien über die Sowjetunion veröffentlichte. Obgleich er zweimal zum Präsidenten des amerikanischen P.E.N.-Klubs avancierte, hatte er sich als Schriftsteller zeitlebens Plagiatsvorwürfen zu stellen. 1991 beging er Selbstmord.

In dem Roman „The Painted Bird“ wird die vierjährige Odyssee eines Knaben geschildert, der von seinen Eltern unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen in die östlichen Landesteile geschickt und dort auf sich allein gestellt einem täglichen Kampf ums Überleben ausgesetzt wird. Wegen seiner olivenfarbenen Haut, seiner dunklen Haare und seiner schwarzen Augen fällt der das Polnisch der gebildeten Schichten sprechende Junge in den Dörfern der Provinz als Jude oder Zigeuner auf, ohne dass eine eindeutige Zuordnung getroffen wird. Der Strudel der Gewalt, in die der Junge gerissen wird, geht von dem archaischen Gebaren einer bäuerlichen Bevölkerung aus, die ihr anarchisches Dasein unter den Bedingungen der deutschen Okkupation jenseits der Grenzen von gut und böse zu fristen scheint. Offenbar verarbeitete Kosiński in surrealistischer Weise traumatische Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Dementsprechend bleibt der Ort des fiktiven Geschehens nebulös. Durch die der Ich-Erzählung vorangestellte Einführung verweist der Autor den mit den tatsächlichen Verhältnissen vertrauten Leser aber eindeutig auf die Sumpf- und Waldlandschaften Podlachien und Polesien, die sich in der Zwischenkriegszeit als „Östliche Grenzmarken“ (Kresy wschodnie) in Händen der Zweiten Polnischen Republik befanden, auf die in der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) aber als „Westweißrussland“ (Zapadnaja Belorussija) Anspruch erhoben wurde. Die Bevölkerung dieser sozioökonomisch rückständigen Region begriff sich bar jeglicher ethnischer oder konfessioneller Zuordnungen als „hiesig“, so lauteten zumindest Antworten auf die Fragen nach der Herkunft in den polnischen Volkszählungen von 1921 und 1931. Der weißrussische Schriftsteller Janka Kupala hat den „Hiesigen“ (Tutėjščyja) in seiner gleichnamigen Komödie 1922 ein bleibendes Denkmal gesetzt, obwohl er den Ort der Handlung in die Hauptstadt Minsk verlagerte und seinen Helden vor den Wirren der Grenzverschiebungen in Krieg und Bürgerkrieg als politischen Wendehals demaskierte. Von Kosiński werden die Hiesigen zwar nicht eindeutig identifiziert, nolens volens aber als Hinterwäldler diffamiert.

Die Metapher vom „bemalten Vogel“ rankt sich in Kosińskis Roman um den Vogelfänger Lech, um einen wahrhaft eigenwilligen Kautz, um einen Außenseiter, der von seiner Liebe zur „blöden Ludmilla“ verblendet wird, die im Wald lebt und den Männern des Dorfs unentgeltlich ihre wollüstigen Dienste anbietet. Als Ludmilla, deren russischer Name die Liebe zu den Menschen konnotiert, einmal für längere Zeit verschwindet, opfert Lech, der den Namen des Urvaters aller Polen trägt, in seinem Wahn das Wertvollste, was er hat: seine in Käfigen hausenden Vögel. Nach und nach entlässt er ein Exemplar in perfider Weise in die Freiheit. Er malt den Vogel bunt an und beobachtet, wie er bei der Begegnung mit seinen argwöhnischen Artgenossen in Stücke gerissen wird. Das dem Leser aufgegebene Rätsel findet eine Überhöhung, indem unwesentlich später die angebetete Ludmilla von den Frauen des Dorfes massakriert wird.

Die Moral von der Geschichte erschließt sich dann, wenn die Metapher vom „bemalten Vogel“ in historischer Manier auf Kosińskis Quelle zurückgeführt wird. In einem 1962 erschienenen Buch mit dem Titel „No Third Path“ präsentierte Kosiński unter dem Pseudonym Joseph Novak die Ergebnisse einer soziologischen Forschungsarbeit über die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Betriebsgruppe, dem Kollektiv, die er während eines Studienaufenthaltes in der Sowjetunion vorgenommen hatte. In diesem Buch vertrat Kosiński die These, dass der Terror, auf dem das Herrschaftssystem des Stalinismus beruht hatte, im Zuge der Entstalinisierung der Etablierung eines kollektiven Zwangs gewichen war. In diesem Zusammenhang schilderte er eine Begegnung mit der Literaturliebhaberin Warwara, die ihren Beruf als Journalistin deshalb nicht ausüben konnte, weil sie von der kulturpolitischen Linie der Partei abgewichen war. In einer Reminiszenz an Warwaras Kindheit tauchte der „bemalte Vogel“ folgendermaßen auf: Eine Gruppe Jugendlicher habe einen Sperling in der Erwartung rot gefärbt, er werde von seinen Artgenossen bewundert, sei aber jäh enttäuscht worden. Die Zugehörigkeit zu einem grauen Schwarm habe die übrigen Sperlinge instinktiv dazu getrieben, den Sonderling anzugreifen und zu töten. In dieser Geschichte wollte Warwara ihr eigenes Schicksal widergespiegelt sehen. Im Endeffekt stellt das Anmalen eines nach Freiheit strebenden Wesens die Markierung einer nicht als opportun erachteten Individualität dar und symbolisiert damit die Stilisierung von Außenseitern. Das Massakrieren des Delinquenten rechtfertigt sich für die hasserfüllten Täter aus dem Misstrauen gegenüber Abweichungen von der Norm. So gesehen liest sich der „bemalte Vogel“ wie eine Parabel auf die Sowjetisierung der Lebensverhältnisse respektive die Allmacht der Kollektive. Physische Gewalt erübrigte sich nach Stalin durch die Kriminalisierung des Nonkonformismus und die Isolierung der Andersartigen.

Was verbindet die fiktionale Geschichte des „bemalten Vogels“ mit der realen Historie Ostpolens oder Westweißrusslands? Die Lebenswelt des polnischen Adels, der russischen Bürokratie, der jüdischen Händler und der weißrussischen Bauern ist im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und des stalinistischen Terrors sowie der nationalsozialistischen Okkupation und des Holocausts untergegangen. Abgesehen von der während des Zweiten Weltkrieges erfolgten Vereinigung der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) mit den polnischen Ostgebieten stellte das 20. Jahrhundert bis zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ein Zeitalter der demographischen Katastrophen dar. Darüber hinaus verlieh die sozioökonomische Transformation der Nachkriegszeit der Belarus‘ ein gänzlich neues Gesicht. Im Zuge eines rasanten Urbanisierungsprozesses erfolgte binnen zweier Jahrzehnte die Umwandlung eines Agrarlandes in einen Industriestaat. Aus der sozialistischen Modernisierung und der kulturellen Sowjetisierung resultierten eine Russifizierung der Landessprache und eine Preisgabe der weißrussischen Identität. In der bis heute anhaltenden Debatte über die Hiesigen geht es um die Frage nach den Defiziten des Nationalbewusstseins, eine Frage, die sich mit der Herausbildung einer eigenartigen, aus dem ländlichen Milieu stammenden „Mischsprache“ aus Weißrussisch und Russisch (trasjanka) nach dem Zweiten Weltkrieg neu konfiguriert hat. Vor diesem Hintergrund symbolisiert die Metapher vom „bemalten Vogel“ die Metamorphose der Gemeinschaft der autarken „Hiesigen“ in die Spezies des konformen „Homo Sovieticus“.

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Loyalität und Anpassung oder gar Widerstand und Eigensinn sind auch die Probleme, die sich die beiden Preisträgerinnen bei ihren Erkundungen im östlichen Europa vorgenommen haben. Mit ihren Dissertationen „Nur eine ‚Geld-Emancipation‘? Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800-1867“ und „Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er bis 1950er Jahre“ haben sie weiße Flecken in der Forschungslandschaft mit Farbe gefüllt. In den Gutachten wird von Pionierstudien gesprochen. Vielleicht sollte das Bild der virtuellen wissenschaftlichen Expedition Verwendung finden. Im Hinblick auf verschwundene Lebenswelten hat das östliche Europa immer noch erstaunliche Phänomene zu bieten. Der Verweis auf die Unterbelichtung einer Region, die heutzutage von dem orientalischen Despoten Alexander Lukaschenko dominiert wird, lässt sich diesbezüglich verallgemeinern. In der Untergrundszene der Republik Belarus erfährt beispielsweise der seit Sowjetzeiten gepflegte Partisanenmythos eine Verballhornung, wenn es darum geht, eine Kulturrevolution zu inszenieren, die auf die Europäizität des Landes verweist. Offenbar ist es in Weißrussland wie in anderen Regionen Ost- und Südosteuropas an der Zeit, dass Schalmeibläser und bunte Vögel auf den Plan treten.

Ich komme zum Schluss, indem ich den Faden noch einmal aufgreife, den ich eingangs unter Bezugnahme auf den Film „Die kaukasische Gefangene“ gelegt habe. Das Ziel der ethnographischen Expedition bestand darin, Märchen, Legenden und Trinksprüche zu dokumentieren. Mit Blick auf die „Scientific Community“, in die die beiden Preisträgerinnen mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Promotionen Eingang gefunden haben, erlaube ich mir virtuell das Glas zu heben und in Anspielung auf den Flug des Ikarus folgenden Toast zu zitieren: „Als ein Schwarm Zugvögel in den Süden flog, da sagte ein kleiner, aber stolzer Vogel: ‚Ich aber will bis zur Sonne fliegen.‘ Er flog empor, immer höher und höher, aber bald hat er sich die Flügel verbrannt und ist auf den Boden der tiefsten Schlucht gestürzt. Trinken wir also darauf, dass jeder von uns, egal wie hoch er fliegt, nie das Kollektiv verlässt.“