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Laudatio für Inna Klause: Prof. Dr. Stefan Weiss

Prof. Dr. Stefan Weiss, HMTM Hannover

Laudatio zur Verleihung des Georg R. Schroubek-Dissertationspreises an Inna Klause am 3. Mai 2013 in München

Die Verleihung des Schroubek-Dissertationspreises an Inna Klause erfüllt mich mit großer Freude, nicht nur weil es sich um die wohlverdiente Anerkennung ihrer Dissertation handelt, sondern auch mit Blick auf unsere Disziplin, die Musikwissenschaft. Denn es ist ein eher seltener Fall, dass musikwissenschaftliche Forschung in einem interdisziplinären Kontext Beachtung findet, und dieser Umstand allein verrät uns einiges über den herkömmlichen Zuschnitt des Faches, aber auch über die Arbeit von Inna Klause selbst, die sich im fachlichen Kontext als sehr ungewöhnlich ausnimmt. Wenn Musikwissenschaft von anderen Disziplinen kaum zur Kenntnis genommen wird, dann hat das vor allem damit zu tun, dass man sich innerhalb des Faches über Jahrzehnte hinweg auf einen Gegenstandsbereich konzentrierte, der auf den ersten Blick einsichtig erscheinen mag, aber doch vergleichsweise eng ist. Erforscht wurden und werden Werke und Komponisten, die entweder in der allgemeinen Wertschätzung bereits als herausragend gelten oder deren hoher künstlerischer Rang durch die Forschungen etabliert werden soll. Für die philologische und historische Interpretation solcher Meisterwerke steht eine hoch differenzierte Analysemethodik mit entsprechendem Vokabular zur Verfügung, die Nichtfachleuten den Einstieg in diese Forschungen, aber auch schon nur den Anschluss daran erschwert. Musikwissenschaft muss für Außenstehende manchmal wie eine selbstbezogene Geheimwissenschaft wirken, wie Hieroglyphen ohne Aussicht auf Entzifferung.

Dieses starre Bild ist in den letzten Jahren jedoch in Bewegung gekommen, und Inna Klauses Arbeit partizipiert an diesen neueren Tendenzen. Ihr Gegenstand, „Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er bis 1950er Jahre“, passt kaum noch in das alte Muster. Hier ist nicht primär von künstlerisch herausragenden Kompositionen die Rede, die es auf neue Art zu interpretieren oder deren Entstehungs- und Rezeptionskontexte es zu erhellen gilt, sondern es liegt ein sehr viel weiterer Musikbegriff zugrunde. Musik: Dazu gehört in dieser Dissertation etwa die Aufführung einer Repertoire-Oper durch ein Sträflingsorchester im Fernen Osten der Sowjetunion, dazu gehört aber auch das in einer Baracke vorgetragene Lied eines Häftlings zur Gitarre, oder ein obrigkeitlich organisierter Wettbewerb um das beste Lagerlied. Musik begegnet in Form einer im Gedicht niedergeschriebenen individuellen Erinnerung, oder als inoffizielle Hymne im kollektiven Gedächtnis Zehntausender ehemaliger Häftlinge. Diesem erweiterten Musikbegriff entsprechend analysiert die Arbeit nicht kompositorische Strukturen, sondern vielmehr das, was unter den unmenschlichen Bedingungen des Gulag-Systems viel näher lag: die Funktionen von Musik. Warum erklang sie in den Straflagern Josef Stalins überhaupt? Was bezweckte die Lagerleitung mit ihr, und inwiefern konnte sie diesen Zwecken tatsächlich dienen? Und vermochte Musik schließlich auch in den Lagern das, was ihr so oft und in anderen Kontexten stillschweigend zugeschrieben wird – konnte sie in einer Situation unerträglicher Bedrückung ein Anderes entwerfen, eine Gegenwelt, und konnte sie Hoffnung geben, dass man das Lager, in das es einen verschlagen hat, irgendwann einmal hinter sich lassen würde?

Es ist vielleicht nicht uninteressant, kurz zu umreißen, wie Inna Klause zu ihrem Gegenstand gekommen ist. An der Hannoverschen Hochschule für Musik, Theater und Medien hat sie zunächst Akkordeon studiert, in einem künstlerisch-pädagogischen Studiengang, in dem Wissenschaft „auch“, aber eher am Rande vorkam. Aber selbst wenn sie in der Hochschule musikwissenschaftliche Veranstaltungen besuchte, konnte sie dort nichts über das Akkordeonrepertoire erfahren, denn für dergleichen interessiert sich in der akademischen Musikwissenschaft kein Mensch. Als sie dann aber noch ein Magisterstudium in Musikwissenschaft aufnahm, muss sie beschlossen haben, dies zu ändern, denn eines Tages kam sie in meine Sprechstunde und informierte mich darüber, dass sie ihre Magisterarbeit über den russischen Komponisten Vladislav Zolotarev schreiben wolle, der dem Akkordeonrepertoire des 20. Jahrhunderts entscheidende Impulse gegeben habe, und dass sie zu diesem Zweck zum Quellenstudium nach Magadan fahren werde.

Ich muss zugeben, dass ich weder von dem Komponisten Zolotarev noch von Magadan jemals etwas gehört hatte, einem Ort, der sich im äußersten Osten der russischen Föderation befindet, und dass ich einigermaßen verblüfft von der Entschlossenheit war, wegen einer Magisterarbeit eine Forschungsreise von vielen Tausend Kilometern zu unternehmen. Aber Inna Klause hat diese Magisterarbeit realisiert und auch die Forschungen an Zolotarjows Wohnort Magadan durchgeführt – nur um dort mit einem für sie unerwarteten Kontext konfrontiert zu werden. Magadan nämlich war zur Stalin-Zeit der Hauptort des Kolyma-Lagers gewesen, eines der größten und grausamsten Komplexe des Gulag-Systems. Und die allenthalben anzutreffenden Relikte und sichtbaren Erinnerungszeichen in der Stadt, vom Denkmal bis zur Ausstellung, stießen sie auf ein völlig neues Thema, woraus dann ihre Dissertation erwuchs. Es gehört Mut dazu, sich auf ein solches Thema einzulassen, aber wer für eine Magisterarbeit über einen Akkordeonkomponisten von Hannover auf die Kolyma reist, hat diesen Mut nicht nur bereits unter Beweis gestellt, sondern vielleicht auch schon eine gewisse Sicherheit in der Handhabung des Ungewöhnlichen erlangt.

Was nun hat sich durch diese Dissertation verändert, was macht sie zu einer ausgezeichneten Leistung? Zunächst einmal stellt sie das Wissen über die Verfolgung von Musikern unter Stalin auf eine gesicherte Grundlage – was bisher in dieser Hinsicht bekannt war, blieb auf einige herausragende Persönlichkeiten begrenzt oder war legendenhaft verbrämt. Musiker, so sagte man gern, seien von den Verfolgungen des Großen Terrors ausgenommen gewesen. Einigermaßen bekannt sind die parteilichen Maßregelungen, die z. B. den Komponisten Dmitri Schostakowitsch trafen, aber über eine Gulag-Haft von Musikern wusste man wenig oder nichts. Das hat sich durch die Dissertation geändert, und zwar nicht nur, aber eben auch hinsichtlich der von der Musikwissenschaft von jeher favorisierten Berufsgruppe der Komponisten.

Die Arbeit hat jedoch einen viel weiter reichenden Erkenntniszuwachs gebracht, indem sie hier nicht stehenbleibt, sondern daran geht, das bereits angedeutete Feld der Funktionen von Musikausübung im Lager zu erforschen. Dadurch, so meine ich, wird die Dissertation interdisziplinär anschlussfähig, und dadurch hat sie auch die Aussicht, von Fachleuten aus anderen Bereichen zur Kenntnis genommen zu werden. Denn Musik war im Gulag kein nach außen hin abgeschotteter Lebensbezirk, Musik war mittendrin und potentiell allgegenwärtig. Sie sollte einerseits Teil haben an jenem Ideal der Umerziehung, das die Lagerleitungen propagierten und für das sie das musikalische Repertoire ebenso zu kontrollieren suchten wie andere Lebensbereiche der Häftlinge. Andererseits kamen der Musik bedeutsame Funktionen für die Lagerinsassen zu, an die die Propagandisten der ‚Umerziehung‘ wohl kaum gedacht hatten. Die teilweise immens schwierige Realisation von Aufführungen im Bereich der Hochkultur etwa gab den zu Zwangsarbeit verurteilten Berufsmusikern die Vorstellung von sinnvoller Tätigkeit zurück. Inna Klause zeigt auch, wie alte und neu komponierte Lieder der Selbstvergewisserung im Sinne nationaler, regionaler, ethnischer und religiöser Identitäten dienten. Lieder schlossen die verschiedenen Häftlingsgruppen nach außen hin zusammen, seien es nun gläubige Christen, Angehörige nationaler Minderheiten oder bestimmte soziale Gruppierungen. Bemerkenswert finde ich zumal, wie unter diesen die sogenannten kriminellen Häftlinge, also solche, die sich nicht wegen angeblichen politischen Fehlverhaltens im Lager befanden, sondern wegen tatsächlicher Straftaten, ein ganz eigenes Liedrepertoire ausprägten, das auf merkwürdige Weise in die zivile Gesellschaft zurückwirkte und dort den gegenkulturellen Strömungen der Tauwetter-Zeit ein musikalisches Profil verlieh.

Es ist diese kulturhistorische Forschungsperspektive auf ein dunkles Kapitel der osteuropäischen Geschichte, die Inna Klauses Arbeit den Zielen des Schroubek-Fonds annähert. Die Auszeichnung, die sie heute erhält - das ist zu hoffen -, wird sie zu weiteren ungewöhnlichen musikwissenschaftlichen Vorhaben ermutigen. Unsere Disziplin kann solchen Mut brauchen, und für den interdisziplinären Austausch ist er ein wahrer Segen. Dazu ist Glückwunsch in jeder Hinsicht angebracht.