Sonderfonds Östliches Europa
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Stefan Wiese: Pogrome im Russischen Reich (Dissertationsprojekt)

Abschlussbericht

Stefan Wiese – Pogrome im Russischen Reich

 

In meiner Doktorarbeit geht es um Pogromgewalt den letzten Jahrzehnten des Russischen Reichs. In einer Kombination aus Fallstudien und systematischen Ansatz soll das Phänomen als Ganzes beschrieben werden, ohne die Vielgestaltigkeit seiner Ausprägungen zu vernachlässigen. Am Anfang jedes Kapitels steht eine aus Primärquellen unterschiedlicher Provenienz gearbeitete Fallstudie. Im Vergrößerungsglas des Einzelfalles kommen Geschichten zum Vorschein, die sich oft deutlich von den bekannten Narrativen unterscheiden. Die Fallstudien können so dazu dienen, bekannte Argumente in Zweifel zu ziehen, aber sie legen auch neue Erklärungszusammenhänge nahe, weil im lokalen Fokus die Komplexität des sozialen Geschehens so weit reduziert wird, dass bislang unvermutete Kausalitäten in den Blick geraten. Die Fallstudien helfen dabei, Hypothesen zu generieren, die in einem zweiten Schritt freilich auf ihre Plausibilität über den lokalen Kontext hinaus geprüft werden müssen. Es gehört zu den größten Herausforderungen dieser Arbeitstechnik, sorgsam abzuwägen, inwiefern die jeweilige Fallstudie repräsentativ und inwiefern sie besonders ist. Kurzum – an methodischen und darstellerischen Herausforderungen fehlt es nicht.

Es gibt einen Kern dessen, was alle Pogrome verbindet – sonst hätte „Pogrom“ als analytische Kategorie auch keine Berechtigung. Doch worin liegt das Spezifische des Pogroms und wie entsteht es? Um diese Frage geht es im ersten Kapitel meiner Dissertation, an dessen Niederschrift ich während meiner zweimonatigen Förderung durch den „Schroubek-Fonds östliches Europa“ gearbeitet habe. Die grundlegenden Dynamiken des Pogroms, die auch dann, wenn gut organisierte Opfer- und Täterverbände oder sogar das Militär (Kapitel 3 und 4) in den Vordergrund treten, noch eine wichtige Rolle spielen, werden exemplarisch anhand des Pogroms von Elisavetgrad im Jahr 1881 beschrieben. Es wird erläutert, wie sich ein relativ komplexes soziales Geschehen ereignen konnte, ohne dass es, wie viele zeitgenössische Beobachter meinten, dafür einer steuernden Hand bedurft hätte. Für den Beginn, das „Ausbrechen“ der Gewalt wird herausgearbeitet, wie unterschiedliche Akteursgruppen zunächst einen kleineren Vorfall erwarteten und begannen, sich auf diesen vorzubereiten. Die Vorbereitungen konnten wiederum als Bestätigung dessen gesehen werden, dass tatsächlich ein besonderes Ereignis bevorstand. Die sich aneinander steigernden Erwartungen sind ein wichtiger Faktor für das Ausbrechen von Pogromgewalt, aber kein determinierender. Alle Akteursgruppen können Oberhand gewinnen, auch der Staat. So schien es zunächst auch in Elisavetgrad zu sein. Am allgemein erwarteten Termin der Ausschreitungen blieb es, dank starker militärischer Präsenz und verschiedener Vorsorgemaßnahmen, ruhig. Nicht zufällig begann das Pogrom dann jedoch gleich nachdem die Truppen abgezogen waren. Pogrome brauchen einen Anlass – aber was bedeutet das? Ein Anlass ist ein Ereignis, das einen von den Pogromtätern als bedeutend wahrgenommenen Konflikt in prägnanter und emotional aufrührender Weise repräsentiert. Das Beispiel Elisavetgrads verdeutlicht, dass es einen erheblichen Spielraum zwischen dem „eigentlichen“ Vorfall (hier ein Konflikt mit deutlichen religiösen Konnotationen) und seiner Wahrnehmung durch die Pogromtäter (die die religiöse Dimension völlig vernachlässigten) geben kann. Im Umkehrschluss können somit Aussagen darüber getroffen werden, welche Probleme die Pogromtäter als maßgeblich ansahen. Im Vorliegenden Fall etwa wäre es falsch, von einem religiösen Konflikt oder religiöser Gewalt zu sprechen, wenngleich Täter und Opfer unterschiedlichen Glaubens waren.

Die eigentlichen Pogromtäter waren wenige, vermutlich sogar noch weniger als die Ordnungshüter der Stadt, und doch konnten sie für die Dauer von zwei Tagen die jüdische Bevölkerung der Stadt in Angst und Schrecken versetzen. Die Ursache liegt im Zusammenspiel zwischen Pogromtätern, Zuschauern und Behörden. Ob unbeabsichtigt oder aus einer intuitiven Einsicht in Gewaltprozesse heraus – die Kerntäter, also diejenigen, die in Häuser einbrachen und Juden schlugen, handelten so, dass sie erstens möglichst viele Zuschauer anzogen, indem sie die Zerstörung als Spektakel inszenierten. Zusätzlich bemühten sie sich, die Schwelle der Zuschauer zum Plündern zu senken, indem sie mehr oder minder wertvolle Gegenstände auf die Straße warfen. So schufen sich die Kerntäter einen doppelten Schutz: die Zuschauer, unter ihnen zahlreiche Frauen und Kinder, hinderten das Militär daran, die Menschen entschlossen auseinanderzutreiben (oder gaben ihnen zumindest eine Rechtfertigung, dies nicht zu tun). Die Plünderer wiederum reduzierten das Risiko der Kerntäter, von der Polizei festgenommen zu werden. Tatsächlich räumte die Staatsanwaltschaft ein, dass unter den zahlreichen Inhaftierten vermutlich kein einziger Hauptprotagonist des Pogroms gewesen sei.

Was bedeutete Pogromgewalt wie die in Elisavetgrad? Warum griffen die Täter nur selten Menschen an, zeigten keine Tötungsabsicht und stellten denjenigen Juden, die sich versteckt hielten, nicht nach? Betrachtet man die Handlungsmuster der Täter, so wird deutlich, dass sie zum Teil dem Repertoire der bäuerlichen Selbstjustiz entnommen waren. Mit den Juden wurde das gemacht, was Bauern mit Personen taten, die zwar zu ihrer Gemeinschaft gehörten, die aber eine wichtige Regel des Zusammenlebens gebrochen hatten. Ließen die „Delinquenten“ die Strafe über sich ergehen, so galten sie als rehabilitiert, schwere körperliche Gewalt wurde (mit wenigen Ausnahmen) nur dann verübt, wenn sich die Bestraften gegen das „Urteil“ der Gemeinschaft zur Wehr setzen, oder wenn sie als Fremde angesehen wurden. Nun sind die Pogrome von 1881 nur begrenzt mit dem bäuerlichen Strafritual vergleichbar. Dennoch erlaubt dieses Deutungsmuster zu erklären, warum es während der ersten Pogromwelle 1881-82 bei sehr wenigen Todesopfern blieb, während bei der zweiten 1905-06 sehr viele gab: nahmen die Juden das Pogrom während der ersten Welle weitgehend passiv hin, so setzten sie sich während der zweiten Welle häufig organisiert zur Wehr. Die Täter verübten in dieser Situation deshalb schwerere Gewalt, weil ihre bäuerliche Herkunftskultur eben dies für den Fall vorsah, dass „Übeltäter“ ihre Strafe nicht akzeptierten. Die intensivere Pogromgewalt in der Zeit der ersten russischen Revolution hatte freilich noch andere Hintergründe und Ursachen, die im dritten Kapitel meiner Doktorarbeit erläutert werden. Da ich sie jedoch erst nach Ende des Stipendiums niedergeschrieben habe, sind sie nicht mehr Teil dieses Berichtes.

Abschließend möchte ich dem Schroubek-Fonds Östliches Europa nochmals herzlich für die Unterstützung danken, die mir zuteilwurde.

Stefan Wiese