Sonderfonds Östliches Europa
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Trauerrede für Georg R. Schroubek von Helge Gerndt

Gib mir die Hand.
Wir gehen hin nach Morgenland.
Nimm meinen Stern,
den ich beim Abschied für dich fand.
Durchs Nebeltor
ist weit der Weg nach Morgenland
und ohne Spur.
Hörst du: Die Muschel singt im Sand.
Nimm auf den Ton
und hefte ihn an mein Gewand.
Dann lass uns gehn:
Durchs Nebeltor nach Morgenland.

Im Abschiednehmen,

liebe, sehr verehrte Frau Schroubek,
liebe Freunde Georg Schroubeks, sehr geehrte Trauergäste,

im Abschiednehmen liegt, das spüren wir alle, ein Geheimnis. Jeder Abschied bedeutet eine Trennung, aber kein unhinterfragbares Ende. Denn Abschied ist eine Verwandlung, die das leibliche Beieinandersein zweier oder mehrerer Menschen umändert in eine Möglichkeitsform geistiger Gegenwart. Wir nennen dieses Phänomen Erinnerung. Das Wechselverhältnis von Körper und Bewusstsein ist ein Aspekt der harmonischen Verbindung von Form und Inhalt, von Lebensqualität, die für Georg Schroubek stets wichtig, ja existenziell gewesen ist.

Georg Schroubek hat Leben und Lebenswelt zutiefst als ambivalent erfahren. Zugleich war er von einem unerschütterlichen humanen Impetus beseelt. Beides hat sein persönliches Leben grundiert und seine wissenschaftliche Arbeit geprägt. So waren seine Forschungsgebiete nicht nur ins Leben eingebunden, sondern Teil seines Lebens: zuerst die Volksreligiosität, wo er in ökumenischem Geist die beharrende Kraft der Traditionen mit dem Anspruch der Gegenwart zu versöhnen suchte; dann das Problemfeld ethnischer Vorurteile, wo ihm Aufklärung und Anerkenntnis aufgrund leidvoller Erfahrung in besonderem Maße gefordert schien.

Als Georg Schroubek am 11. Juni 1922 in Prag geboren wurde, war die von ihm später häufig apostrophierte Österreichisch-Ungarische Monarchie erst wenige Jahre zuvor zerbrochen. Er verbrachte seine Jugendjahre in der tschechischen Hauptstadt mit damals größeren deutschen und jüdischen Minderheiten. Dieses nahe Erleben des „Fremden“, während im benachbarten Deutschen Reich das nationalsozialistische Unheil seinen Lauf nahm, führte ihn dazu – wie er später formulierte: an der Korrektur nationaler Präjudize im engen Rahmen des Möglichen mitzuwirken. Auch Georg Schroubeks Interesse am Religiösen gründet in Jugenderlebnissen, in einem Böhmerwälder Marktflecken, wo er während der Sommerferien mit der Großmutter z.B. an Heiligenfesten teilnahm und Wall¬fahrerzüge kommen und gehen sah.

1940 machte Georg Schroubek in Prag das Abitur. Er wurde zum Kriegsdienst eingezogen und geriet in russische Gefangenschaft. Er hat von dieser Zeit vor allem als seiner Chance gesprochen, dort die russische Sprache zu lernen. 1948 wurde er entlassen. Die Welt war verändert, die Heimat nun verschlossen. Er fand seine Eltern in München. Er begann zu studieren, aber sein Vater starb bald, und Georg Schroubek wurde Buchhändlerlehrling und Sortimenter bei Robert Lerche, dem die berühmte, vormals J. G. Calve’sche Buchhandlung am Kleinen Ring in Prag gehört und den es ebenfalls nach München verschlagen hatte. 1950 begründete Georg Schroubek, 28jährig, die „Prager Nachrichten“, die er zweieinhalb Jahre – als Chefredakteur, Vertriebsleiter, Anzeigenverwalter, Bürodiener etc. in einer Person – betreute und die noch heute, im 59. Jahrgang, erscheinen. 1951 publizierte er ein „Adressbuch ehemaliger Prager Deutscher“, durch das zahlreiche Schicksale geklärt werden konnten.

Zusammen mit seiner Frau nahm Georg Schroubek intensiv am literarischen Leben der Nachkriegszeit teil. Er hat eindrücklich geschildert, wie – in seinen Worten gesagt – die Parallelerfahrung äußersten materiellen Mangels und kultureller Fülle ein beispielloses psychologisches Klima schuf. ... [Und weiter schreibt er:] Das fast atemlos nachholende Rezipieren all des in einem dürren Jahrzehnt Vorenthaltenen verband sich zunehmend mit eigener kreativer Artikulation – Ausdruck der auf die äußere folgenden inneren Befreiung sowie des engagierten Willens, an der Schaffung einer Atmosphäre mitzuwirken, in welcher das so arg misshandelte Humanum zu neuer Wirklichkeit aufleben könne. Georg Schroubek hat seinen Lebensunterhalt damals einige Jahre mit publizistischen Tätigkeiten verdient: z.B. als Leiter der Presseabteilung des Ullstein-Buchverlags. Bereits 1950 hatte er eine Rilke-Bibliographie publiziert, jetzt schrieb er eine Geschichte der Weltliteratur.

Anfang der 1960er Jahre kehrte Georg Schroubek an die Münchner Universität zurück. Er wurde Verwalter einer wissenschaftlichen Assistentenstelle am Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde, das sein ehemaliger Prager Gymnasiallehrer Josef Hanika, jetzt zum Ordinarius aufgestiegen, neu begründet hatte. Als Hanika kurz darauf starb, sicherte Georg Schroubek, bis Leopold Kretzenbacher den Lehrstuhl übernahm, die Kontinuität des Institutsbetriebs, von 1963 bis 1966. 1967 promovierte er über ein ihn bewegendes religiöses Gegenwartsphänomen, das er akribisch dokumentierte und historisch einordnete: „Wallfahrt und Heimatverlust“. In der Folge blieb er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an diesem Institut tätig bis zu seiner Pensionierung 1984.

Georg Schroubek hat Geist und Atmosphäre dieses Instituts wesentlich mitbestimmt. Mehrere Studentengenerationen haben dankbar von seiner Hilfe und Anteilnahme gezehrt. Er nahm sich besonders jener Studierenden an, die mit „gebrochenen Flügelchen“ (wie er das nannte) der fürsorglichen Zusprache bedurften. Ich selbst hatte das seltene Glück, fast zwanzig Jahre lang mit ihm schattenlos zusammenarbeiten zu dürfen. Seine Lebenserfahrung und sein uneingeschränktes Vertrauen, seine Zuhörbereitschaft und sein beneidenswertes Erzähltalent bestimmten diese Zeit. 1969 hatten wir nach einem Feldforschungsseminar in der Slowakei gemeinsam seine Geburtsstadt besucht: ein unvergessliches Wiedersehen mit Prag für ihn und der Beginn einer lebenslangen Freundschaft für uns beide.

Der Name Georg Schroubek hat in der Volkskunde und in der Geschichte der böhmischen Länder einen guten Klang. Das belegt seine ordentliche Mitgliedschaft in renommierten wissenschaftlichen Gesellschaften wie dem Collegium Carolinum oder dem Johann Gottfried Herder-Forschungsrat, wo er viele Jahre den Vorsitz der Fachkommission für Volkskunde innehatte. Darüber hinaus wurden ihm Ehrenmitgliedschaften der Historischen Kommission für die böhmischen Länder und der Münchner Vereinigung für Volkskunde angetragen und sein Lebenswerk in zwei Festschriften gewürdigt. Ihm wie uns war es eine Genugtuung und eine große Freude, dass er den repräsentativen Sammelband seiner „Studien zur böhmischen Volkskunde“, der vor zwei Monaten erschienen ist, noch in Händen halten konnte. Er durfte stolz und zugleich, wie es für ihn typisch war, mit selbstironischem Witz konstatieren, dass er auch die letzten Dinge penibel geregelt und dass er sich insbesondere – in Gemeinsamkeit mit seiner Frau – einen Herzenswunsch erfüllt hatte: nämlich nach all der Verblendung, dem Hass und dem Wahn, wie er ihn im 20. Jahrhundert hatte erleben müssen, eine die osteuropäischen Völker einladende Wissenschaftsstiftung „Erkundungen und Annäherungen“ zu begründen, um zwischen jungen Deutschen und jungen Osteuropäern die bessere Kenntnis von einander und die Verständigung miteinander zu fördern.

Seine letzten Tage waren nicht leicht. Aber er war dankbar dafür, dass er aus den Allgäuer Kliniken nach Lindau zu seiner Frau hatte zurückkehren dürfen, und er war dankbar für die Einfühlung und die Zuwendung, die er in der Bodenseeresidenz, vor allem durch Frau Arz, erfuhr. Er war dankbar für ein Konzert, das ihm der Chor der Russischen Orthodoxen Kirche aus München, wie jetzt hier erneut, dargebracht hat, und er war vermutlich auch Sissy, der jungen Katze dankbar, die den Tod kommen spürte und sich auf seine Brust setzte, bevor er ruhig verschied. Georg Schroubek hat von uns Abschied genommen. Wir verlieren einen wahren, in seiner Art raren Humanisten. Wir werden ihn als Forscher und Menschenfreund, der auch Blumen und Katzen so liebte, voll Dankbarkeit, Hochachtung und Freundschaft in Erinnerung behalten.

Über der Traueranzeige für Georg Schroubek stand, wir haben es gelesen und eben wieder gehört, ein von ihm selbst ausgewähltes Gedicht seiner Ehefrau, mit der er über 50 Jahre lang gemeinsam durchs Leben gegangen ist. Diese Verse sind abgedruckt in einem Lyrikbändchen Barbara Brendlers von 1994, wo sich, mit dem Akronym GRS gezeichnet, ein einfühlsames Nachwort findet, ein Text, der die späten vierziger und frühen fünfziger Jahre, in denen die Gedichte entstanden sind, in dem unverkennbaren Sprachduktus Georg Schroubeks lebendig vor Augen stellt. „Durchs Nebeltor“ ist das vorletzte Gedicht dieses Bandes; ihm folgt ein allerletztes, das nun auch hier den Schlusspunkt setzen soll:

Es ist Zeit

Komm
wenn du Abschied genommen hast
von den Gärten
von der Pracht des Jahres
dem glühenden Wunder
von der Süße der Ernte
deiner Liebe Erinnerung

Die Mandel ist reif
Traum wurde Wirklichkeit
Komm
wenn du Abschied genommen hast
und blick nicht zurück
Frost wird über den Gärten sein

Helge Gerndt