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Varfolomey Bazanov: Integration oder Isolation einer Diaspora? Eine Analyse des sozialen Handelns der russischsprachigen Bevölkerung in Bayern nach 1991 (Dissertationsprojekt)

Varfolomey Bazanov: Integration oder Isolation einer Diaspora? Eine Analyse des sozialen Handelns der russischsprachigen Bevölkerung in Bayern nach 1991 (Dissertationsprojekt)

 

Ab August 2010 bekomme ich das Leopold-Kretzenbacher-Stipendium für den Zeitraum von fünf Monaten, um die empirischen Erhebungen für die Dissertation abzuschließen. In meiner Forschung untersuche ich die Integration bzw. Abgrenzung von Migranten durch Überprüfung und Vergleich ihres sozialen Handelns. Mein Anliegen ist es, das Verhalten der verschiedenen Migrantengruppen, die unter dem Begriff „russischsprachige Bevölkerung“ subsummiert werden, in Alltagssituationen zu beschreiben.

Im August und Anfang September hatte ich vor allem Kontakt zu Vertretern der ersten und zweiten Welle der russischen Emigration, da meine Interviewpartner aus dieser Gruppe wegen ihres fortgeschrittenen Alters (Rentner) nicht an die Sommerferien gebunden sind und, nach eigenen Angaben, meist andere Jahreszeiten für den Urlaub vorziehen. Dieses Jahr hatte ich wegen des Ausnahmezustandes in Russland die Möglichkeit, eine interessante Beobachtung zu machen. Die Befragten aus dieser Gruppe haben Russland spätestens in den 1940er Jahren verlassen. Oftmals blieben nur entfernte Verwandte (wenn überhaupt) zurück. Somit besteht kein direkter persönlicher Bezug zu den Ereignissen im heutigen Russland. Jedoch zeigten sie große persönliche Betroffenheit aufgrund der Waldbrände. Es bleibt nun abzuwarten, welche Resonanz die gleichen Ereignisse in den Interviews mit Vertretern aus den anderen Gruppen hervorrufen. Möglicherweise lassen sich daran unterschiedliche Strömungen innerhalb der „russischsprachigen Bevölkerung“ feststellen, die für meine Forschung von Bedeutung sind.

Bezüglich der anderen Gruppen ließ sich im Sommer vor allem beobachten, dass viele Vertreter, vor allem Familien mit Kindern, die Ferienzeit für einen Besuch im Ursprungsland nutzen. Bei gemischten Familien (deutscher Ehepartner) gibt es sowohl Fälle, in denen der deutsche Ehepartner mitreist, als auch vermehrt solche, in denen nur der russische Elternteil (in allen Fällen, die ich beobachtete war es die Mutter) mit den Kindern für einen längeren Aufenthalt wegfährt. Ich plane, diese Situation genauer zu erforschen (diese Personen extra zu diesem Punkt nochmals zu befragen), da sie mir in Bezug auf die Integration wichtig erscheint. Geht es hier vor allem um das Bedürfnis der Mutter, mit der Heimat und den Verwandten in der Heimat in Kontakt zu bleiben, und die Kinder kommen aus praktischen Gründen mit, oder entspringt dies dem Wunsch nach einer Interkulturalität der Kinder und somit einem bewussten Erziehungskonzept? Wie wirken sich solche Aufenthalte nach der Rückkehr nach Deutschland aus?

Parallel dazu versuche ich, auf der Suche nach Besonderheiten der russischsprachigen Gemeinden rituelle Handlungen und die Pflege von Traditionen teilnehmend zu beobachten: Tauffeste, Einschulungen, Hochzeiten, Bestattungen. Aus der bisherigen Arbeit kann ich über folgende Ergebnisse berichten:

1) Was die Pflege der Traditionen betrifft, zeichnen sich zwei Gruppen ab. Die erste bilden die Migranten (und ihre Nachkommen), die vorwiegend zur sogenannten  „Alten Emigration“ gehören. Das sind die Leute, die die sowjetische Regierung nicht akzeptiert haben. Diese Migranten praktizieren die Traditionen aus der vorsowjetischen Zeit. Die zweite Gruppe bilden die Migranten, die in der Sowjetunion sozialisiert wurden und die Traditionen der sowjetischen Zeit übernommen haben.  Dabei lässt sich in beiden Gruppen ein Einfluss deutscher Traditionen feststellen.

2) Während die Migranten der ersten Gruppe tendenziell sehr eng mit der Russischen Orthodoxen Kirche verbunden sind, ist die zweite Gruppe eher säkular. Bei den Vertretern der „ersten“ Welle (1918 – 1923) handelt es sich meist um Träger der christlich-orthodoxen Kultur. In der letzten Migranten-Welle sind verschiedene Nationen und Religionen vertreten. Wichtig ist allerdings, dass keine Verbindung zwischen Nationalität und Religion zu beobachten ist. So finden sich zum Beispiel unter jüdischen Kontingentflüchtlingen und Russlanddeutschen nicht selten orthodoxe Christen.

3) Der Begriff „russisch“ hat je nach der Migranten-Gruppe verschiedene Bedeutungen. Für manche ist die „russische Kultur“ mit der modernen Kultur Russlands gleichzusetzen, für andere ist das eher die alte Kultur. Aufgrund der unterschiedlichen Auffassung spricht man sich gegenseitig das „Russisch-Sein“ ab.

4) Auch den Festen wird, je nach Gruppe, unterschiedliche Bedeutung verliehen, etwa den modernen Staatsfesten der Russischen Föderation. Während der Vorbereitungen zum „Tag des Sieges“ kann man zum Beispiel gut den Unterschied zwischen den Vorstellungen des Konsulats und den Ideen der Aussiedler, die in Deutschland und somit in einem anderen Informationsraum sind, beobachten.  Es gibt auch Migranten-Gruppen, die dieses Staatfest überhaupt nicht akzeptieren.

5) Alle Migranten-Gruppen sind bestrebt, der Bevölkerung des Residenzlandes die russische Kultur zu präsentieren. Deutsche werden zu den Veranstaltungen eingeladen, bilden aber nie die Mehrheit (davon ausgenommen die „gemischten“ Ehen, von denen ich bisher nicht berichten kann. Es ist allerdings anzunehmen, dass in solchen Fällen eine deutsche Mehrheit mit russischsprachiger Minderheit durchaus denkbar wäre). Normalerweise sind die Migranten bemüht, ihren deutschen Gästen Übersetzungen und Erklärungen zu liefern.

Ich bedanke mich ganz herzlich beim Schroubek Fonds für die Unterstützung!