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Darja Klingenberg: Wohnen nach der Migration. Materialismus, Hoffnungen und Melancholie russischsprachiger migrantischer Mittelschichten

Wohnen nach der Migration. Materialismus, Hoffnungen und Melancholie russischsprachiger migrantischer Mittelschichten

Darja Klingenberg, Institut für Soziologie, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften,
Goethe Universität Frankfurt

Das Dissertationsprojekt untersucht die Bedeutung des Wohnens in Migrationsprozessen und trägt zu einer Neubetrachtung russischsprachiger Migrationsbewegungen nach Deutschland bei. Ausgehend von raumtheoretischen, intersektional feministischen und migrationssoziologischen Debatten geht es um einen Beitrag zur konzeptionellen Neuausrichtung der Perspektive auf Migration, Mobilität und Sesshaftigkeit in einer postmigrantischen Gesellschaft. Es werden Perspektiven entwickelt, die über den für deutschsprachige Migrationsforschung weiter prägenden engen Fokus auf ethnische Identität und Integration hinausweisen.

Mit Methoden der Biographieforschung und sinnlich sensibilisierter teilnehmender Beobachtung werden migrantische Wohnweisen rekonstruiert. Die Studie beschreibt räumlich-materielle, praxeologische und biographisch-genealogische Dimensionen des Wohnens. Anknüpfend an die Literatur zu postsozialistischen Alltagskulturen, werden Veränderungen sozialistischer und postsozialistischer Wohn- und Alltagspraxen im Kontext von Migrationsprozessen nachgezeichnet. So werden die klassen- und geschlechtsspezifische Aneignungsprozesse von Raum und die Veränderungen von Geschmack und Selbstverständnissen im Wohnen zum Gegenstand der Analyse.

Am paradigmatischen Fall der oft als vorbildlich und unauffällig wahrgenommenen postsowjetischen Migrant_innen, russischsprachigen Jüd_innen, Spätaussiedler_innen und Bildungsmigrant_innen, werden so klassen- und geschlechtsspezifische Aushandlungen von Mobilität und Sesshaftigkeit nachvollziehbar. Die Problemlagen und Anpassungsleistungen migrantischer Mittelschichten werden in ihren Ambivalenzen und subtilen Arrangements herausgearbeitet. Jenseits der ethnischen Brille lassen sich Teile der russischsprachigen Migrant_innen als migrantische bzw. marginalisierte Mittelschichten beschreiben, die sich in der Position wiederfinden, fast, aber nicht ganz integriert zu erscheinen. So beleuchtet die Studie einerseits Exklusionsprozesse in Feldern deutscher Mittelschichten, anderseits werden die materiellen Ansprüche, die kurz- und langfristigen Hoffnungen und die melancholischen Bezüge auf meritokratische Ideale herausgearbeitet, die Einrichtungsprozesse migrantischer Mittelschichten prägen.

Fragestellung

Die Arbeit diskutiert drei miteinander verknüpfte Fragen: Welche Erkenntnisse kann Migrationsforschung ausgehend von einer Untersuchung des Wohnens gewinnen? Wie wohnen Migrant_innen und was passiert im Prozess des Wohnens nach der Migration? Welche Bedeutung hat die Einrichtung der Wohnung für russischsprachige Migrationsbewegungen und besonders für migrantische Mittelschichten?

Aufbauend auf raumtheoretischen Debatten, feministischer wie postkolonialer Kritik wird herausgearbeitet, warum das Wohnen von Migrant_innen politisch und ein relevanter migrationssoziologischer Gegenstand ist. Die russischsprachigen Migrationsbewegungen der Neunziger, die Untersuchungsgruppe der Arbeit, wurden bisher vor allem über ihre identitäts- und migrationspolitischen Zugehörigkeiten betrachtet. Die Auswertung der Forschungsliteratur beschreibt die Art und Weise, wie diese Geschichten in deutschen Migrationsdiskursen und in der Migrationsforschung erzählt und diskutiert wurden. Die Debatten reproduzierten oft die mit den migrationspolitischen Ausnahmekonstruktionen verbundenen Erwartungen an die jeweiligen „Gruppen“ und entwickelten blinde Flecken bezogen auf die sozialstrukturellen, generationalen und lokale Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen diesen. So entstanden schiefe Vorstellungen vom problematischen „Homo Sowjeticus“, den „Russen“ als „Wirtschaftsmigranten“ und Bilder von vorbildlich integrierten, jedoch auffallend konturlosen Migrant_innen. Aus dieser Analyse begründet sich das Anliegen der Arbeit, Narrative jenseits des Paradigmas kultureller Differenz zu entwickeln.

Ergebnisse

Die Untersuchung entwickelt drei Typen von Wohnweisen russischsprachiger Migrant_innen: eine prekär-postmaterialistische, eine bürgerliche und eine mit Deklassierung ringende Wohnweise. Rekonstruiert werden klassen-, geschlechts-, alters- und migrationsspezifische Mobilitäts- und Sesshaftigkeitsproblematiken, aus denen spezifische Wohnweisen entstehen. In den Wohnbiographien und Wohnweisen werden dabei klassenspezifische wie raumzeitliche Ausrichtung der Subjekte deutlich, die die Handlungslogik von Einrichtungspraxen prägen. Entlang der drei Typen kristallisieren sich paradigmatische Handlungsprobleme russischsprachiger migrantischer Mittelschichten heraus, die im Wohnen ausgehandelt werden.

Beiträge

Die Studie erarbeitet theoretische und methodische Beiträge für eine Soziologie des Wohnens und die Entwicklung migrationssoziologischer Fragestellungen jenseits des identitätspolitischen Blickes. Sie entwickelt ein Verständnis des im Wohnen ausgehandelten Verhältnisses von Mobilität, Sesshaftigkeit, biographischen Bindungen, ökonomischen Möglichkeiten und weitergehenden Aspirationen. Die Wohnung lässt sich bestimmen als ein von multiplen Ungleichheiten strukturierter Ort, der von spezifischen Notwendigkeiten geprägt ist, einen Rückzugsraum bildet und ein Experimentier- und Gestaltungsfeld schafft. Sie ist für Migrant_innen ein Ort, der politischen und mehrheitsgesellschaftlichen diskursiven Zugriffen ein stückweit entzogen ist und in dem eigene Regeln und Wertvorstelllungen etabliert werden können. Russischsprachige Mittelschichtsmigrant_innen fühlen sich, unabhängig davon, ob sie dauerhaft oder temporär, prekär oder arriviert in Deutschland leben, in ihrer gegenwärtigen Wohnung, ebenso wie im Viertel, in der Stadt und der Region zuhause. Auch auf Europa wird als identitätsstiftender Marker Bezug genommen. Gefühle des Zuhause-Seins und wohnräumliche Verortung verlaufen, so macht die Untersuchung deutlich, quer zu Erzählungen von Identität und unterhalb zu der Maßstabsebene des Nationalen. Im Wohnen findet eine nur vermeintlich banale migrantische Raumnahme statt: Die umliegende Welt wird angeeignet und verbunden mit anderen Räumen. Vor allem werden ausgehend vom Wohnen Ansprüche auf quartierliche, städtische und europäische Bürger_innenschaft entworfen.

Vor dem Hintergrund des in der Arbeit vollzogenen Perspektivwechsels auf die russischsprachige Migrationsbewegung stellt sich noch einmal die Frage nach den Wahrnehmungsmustern deutscher Migrationsforschung: Wie werden Untersuchungsgruppen konstruiert und wer oder was wird zu einem soziologisch zu untersuchenden Problem? Offenbar wird dabei besonders die vernachlässigte Bedeutung von intersektional zu denkender Klassenzughörigkeit. In der biographieanalytischen Betrachtung offenbart sich eine historische Kontinuität von Klassen- und Minderheitenpositionen, die sich durch die Migration und drei unterschiedliche Wirtschaftssysteme hindurch fortsetzen. Trotz Bildung und kulturellem Kapital, trotz der Anstrengungen und Anpassungsbemühungen verbleiben viele in Positionen marginalisierter Mittelschichten. Hier zeigt die Studie einerseits die Grenzen des deutschen Integrationsdiskurses und die über feine Unterschiede etablierten Exklusionen migrantischer Mittelschichten. Anderseits wird die Bedeutung von Mittelschichtsaspirationen, migrantischem Materialismus und einer ostentativen Normalität für die Anpassungs- und Positionierungsbemühungen herausgearbeitet. Diese lassen sich verstehen als die Selbstgewissheit und die unhinterfragte Normalität bürgerlicher Schichten und verweisen zugleich auf den brüchigen Grund (post-)sowjetischer minoritärer und migrantischer Erfahrung. Eine besondere Bedeutung spielt hier das melancholische Festhalten an den beständig enttäuschten meritokratischen Idealen sowjetischer wie kapitalistischer Gesellschaften.