Workshop: Russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog
Диалог российской и немецких научных школ
Темы, методы, теории, подходы.
Russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog
Themen, Methoden, Theorien, Zugänge
Von Anna Flack/Christina Lokk/Julia Person/Sara Reith/Natalja Salnikova/Andrey Trofimov
Vom 5. bis 9. Juni 2018 wurde am Centre for Qualitative Social Policy Research der
Higher School of Economics (HSE) in Moskau eine internationale, interdisziplinäre
Forschungswerkstatt von und für NachwuchswissenschaftlerInnen aus den Bereichen
Sozial- und Geisteswissenschaften aus Russland und Deutschland unter dem Titel
Russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog: Themen, Methoden, Theorien,
Zugänge ausgerichtet. Dieses Format hatte sich als Fortsetzung einer Workshop-Reihe
entwickelt, die von den DoktorandInnen Anna Flack (Vergleichende Kulturwissenschaft,
Universität Osnabrück), Christina Lokk (Soziologie, Stiftung Universität Hildesheim),
Julia Person (Empirische Kommunikationsforschung, Universität Erfurt), Sara Reith
(Kulturanthropologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Natalja Salnikova
(Allgemeine und vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Albert-Ludwigs-
Universität Freiburg), Andrey Trofimov (Europäische Ethnologie, Phillips-Universität
Marburg) mit unterschiedlichen KooperationspartnerInnen organisiert und
durchgeführt wurden:
Russische Kultur – deutsche Kultur? Nationale Identitätskonzepte in aktuellen
geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschungen, November 2015 an der
Universität Mainz
Theoretisch-methodische Zugänge zu kollektiver Erinnerungskultur und
individuellen Identitätskonstruktionen – russische und deutsche
Wissenschaftssysteme im Dialog, September 2016 an der Europäischen
Universität in Sankt Petersburg
Raumaneignung und lokale Transformationsprozesse im Kontext
russischsprachiger Migration, Oktober 2017 am Institut für Migrationsforschung
und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück
KooperationspartnerInnen der Forschungswerkstatt waren diesmal das HSE Centre for
Qualitative Social Policy Research vertreten durch Ekaterina Demintseva, die HSE Art
und Design School, das Department Media der HSE, die Fashion Studies der HSE,
vertreten durch Ljudmila Alyabieva, sowie die Moskauer Staatliche Universität MGU,
vertreten durch Maria Savoskul. Die Veranstaltung wurde gefördert durch die
Juniorprofessur für „Migration und Integration der Russlanddeutschen“ an der
Universität Osnabrück und den Schroubek Fonds Östliches Europa. Die Arbeitssprachen
waren Deutsch und Russisch.
Die Idee für die Forschungswerkstatt erwuchs aus dem Netzwerk, welches sich über die
drei Workshops aufgespannt hatte, sowie dem Bedürfnis, die Ergebnisse der drei
Veranstaltungen noch sichtbarer zu machen. Es hatten sich im Vorhinein vier
internationale Teams aus deutschen und russischen WissenschaftlerInnen konsolidiert,
die jeweils gemeinsame Kooperationsprojekte planten. In Moskau sollten die Teams die
Gelegenheit bekommen, gemeinsam zu forschen, zu diskutieren und weitere Planungen
vorzunehmen und somit ihre Projekte erfolgreich voranzubringen.
Gerahmt wurde die Forschungswerkstatt durch einen Vortrag der Seminarreihe
„Migration Studies“ an der Higher School of Economics, in dem Olga Vendina und Emil
Pain ihre Publikation Multiethnische Stadt (2018) vorstellten, sowie einen gemeinsamen
zweitägigen Abschlussworkshop, in dem im Plenum die vorläufigen Ergebnisse
diskutiert wurden. An drei der fünf Veranstaltungstage arbeiteten die
Forschungswerkstatt-TeilnehmerInnen in ihren jeweiligen Gruppen. Vendina und Pain
stellten Ergebnisse aus ihrem Forschungsprojekt vor, in dessen Rahmen sie in drei
russischen Städten die Bewältigungsstrategien urbaner Diversität auf sozialer sowie
politischer Ebenen untersucht haben. Den Auftakt zum Abschlussworkshop gestaltete
Dimitry Oparin (HSE) mit einem Vortrag über muslimische Praktiken von MigrantInnen
in Moskau. Dabei ging er ausführlich auf den durchaus schwierigen Feldzugang zur
muslimischen Community ein und berichtete über seine Strategien der Akteurs- bzw.
Informationsgewinnung. Anschließend stellten die vier Forschungsteams ihre Ideen und
den Stand Ihrer jeweiligen Projekte vor:
Zur Arbeitsgruppe Artikulation des Nationalen in internationalen
Hochglanzmagazinen am Beispiel der Vogue Russia gehörten drei
NachwuchswissenschaftlerInnen: Julia Person (Universität Erfurt, empirische
Kommunikationsforschung), Olga Dovbysh (HSE, Department Media) und Darja
Nikolijuk (HSE, Art and Design School). Inhaltlich und konzeptionell beratend stand
dieser Gruppe die Professorin Ljudmila Alyabieva (HSE, Fashion Studies) zur Seite.
Im Vordergrund der geplanten gemeinsamen Forschung stand die Perspektive der
ChefredakteurInnen von erfolgreichen „westlichen“ Hochglanzmagazinen auf dem
russländischen Printmedienmarkt. Im Vorfeld der Forschungswerkstatt hat die Gruppe
einen Leitfaden für ExpertInneninterviews entwickelt, die Fragen rund um
Glokalisierung, Lokalisierung und kulturelle Adaption von Printmedieninhalten
tangieren. Unter den Befragten waren aktuelle und ehemalige ChefredakteurInnen der
Zeitschriften Vogue, Cosmopolitan, Joy, Mini, Maxim bzw. ihre StellvertreterInnen. Im
Rahmen der Forschungswerkstatt wurden die Erkenntnisse aus den
ExpertInneninterviews innerhalb der Gruppe diskutiert und analysiert. Anschließend
wurde gemeinsam eine als Pretest konzipierte vergleichende Inhaltsanalyse der
russländischen und der italienischen Vogue durchgeführt – mit dem Ziel national
konnotierte kulturelle Referenzierungen sowohl auf der Text- als auch auf der visuellen
Ebene zu identifizieren. Die Zusammenführung der Ergebnisse wurde am letzten
Workshoptag im Plenum vorgestellt. Im Anschluss an den Nachwuchsworkshop entsteht
aktuell aus dem reichhaltigen Datenmaterial eine gemeinsame Publikation mit dem
Arbeitstitel Strategies for glocalization of licensed glossy magazines: The experience of
russian editors.
Die Arbeitsgruppe Theoretisch-methodische Überlegungen zur Erforschung von
Raumproduktion von MigrantInnen am Beispiel ethnischer Ökonomien in Moskau
bestand aus den zwei Nachwuchswissenschaftlerinnen Anna Flack (Vergleichende
Kulturwissenschaft, Universität Osnabrück) und Christina Lokk (Soziologie, Stiftung
Universität Hildesheim). Unterstützt wurden sie von der Geographin Maria Savoskul
(MGU, Moskauer Staatliche Universität). Durch sie entstand vor Ort der Kontakt zu
Dimitry Koryuhin, der in seiner Abschlussarbeit migrantische Räume in Moskau kartiert
hatte. Er folgte unserer Einladung und nahm an der Abschlussveranstaltung teil. Im
Vorfeld führte die Gruppe eine Literaturdurchsicht zu folgender Fragestellung durch:
Wie kann theoretisch und methodisch sinnvoll vorgegangen werden, um das Phänomen
der Raumaneignung bzw. Raumproduktion an dem konkreten Beispiel ethnischer
Unternehmen zu untersuchen? Vor Ort wurde ein Leitfaden entwickelt, um eine
explorative Feldforschung in Ökonomien, die (überwiegend) von zentralasiatischen
MigrantInnen betrieben wurden, durchzuführen (kirgisischer Supermarkt, usbekisches
Restaurant, Großhandelszentrum mit zentralasiatischen Waren, Schuhladen mit
deutschen Schuhmarken), die zusammen mit den theoretisch-methodischen
Überlegungen im Abschlussworkshop vorgestellt wurde. Innerhalb der Gruppe
tauschten wir uns über die Feldforschungspraxis und die theoretischen Ansätze in der
russländischen Forschung aus und besprachen Möglichkeiten der weiteren Kooperation.
Auf Basis der explorativen Feldforschung in Moskau ist eine gemeinsame
Aufsatzpublikation (voraussichtlich in einem englischsprachigen Journal) zum oben
genannten Thema geplant. Zudem ist ein Gastvortrag der Kooperationspartnerin Maria
Savoskul am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der
Universität Osnabrück avisiert.
Die Arbeitsgruppe Anleitung zur zeitgenössischen Ausstellung über
russlanddeutsche Identität am Beispiel des Heimatmuseums in Saratov setzte sich
aus den zwei (Nachwuchs)Wissenschaftlerinnen Natalja Salnikova (Allgemeine und
vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
und Natalja Logutova (HSE, Art and Design School, Moskau) zusammen. Durch den
gewünschten praktischen Bezug dieser Arbeitsaufgabe war außerdem eine
Studierendengruppe der HSE, Art and Design School an konkreten Gestaltungsschritten
beteiligt. Als gemeinsame Ausgangsbasis dienten Natalja Salnikovas
Feldforschungsnotizen zur Sonderausstellung „Aus der Geschichte der Wolgadeutschen“
des Heimatmuseums der Region Saratov und zur Dauerausstellung „Ausgepackt“ des
Museums für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Darauf und auf
ergänzende Literatur aufbauend wurde im Laufe des Semesters im Seminarkurs
„Grafische Konzeption“ unter der Leitung von Natalja Logutova ein
Layout/Ausstellungs-Design für eine transnationale Ausstellung (Stilisierungsart und
Gestaltung eines Longreads) von zwei Studierenden ausgearbeitet und am letzten
Workshoptag im Plenum präsentiert. Insbesondere im Hinblick auf die transnationale
Vernetzung von musealen Inszenierungen bietet solch eine Internetplattform zahlreiche
Möglichkeiten den bereits existierenden Ausstellungen eine multilaterale Perspektive zu
eröffnen und starre Konzepte der kulturellen kollektiven Identität zu hinterfragen. Die
Beteiligten möchten dieses Projekt weiterverfolgen und Verantwortliche der
Ausstellungsprojekte, die die Russlanddeutschen betreffen, kontaktieren.
Die Arbeitsgruppe „Ethnischer Bezirk in einer Stadt ohne ethnische Bezirke?“
bestand aus den zwei NachwuchswissenschaftlerInnen Sara Reith
(Kulturanthropologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Andrey Trofimov
(Europäische Ethnologie, Phillips-Universität Marburg) sowie aus Dr. Ekaterina
Demintseva, Leiterin des Zentrums für qualitative Forschung des Instituts für
Sozialpolitik an der Higher School for Economics. Die Vorarbeiten und Vorkenntnisse
von Ekaterina Demintseva waren entscheidend für Aufbau, das theoretische Gerüst und
die Durchführung der Forschung: Demintsevas Daten zeigen, dass Moskau im
Unterschied zu mehreren anderen europäischen Metropolen keine „ethnischen Bezirke“,
also eindeutig einer bestimmten Migrantengruppe zugeschriebene Räume, aufweist.
Dies hängt mit der rechtlichen und sozialen Stellung von Migranten (die Mehrzahl von
Ihnen stammt aus den ehemals sowjetischen Republiken in Zentralasien) zusammen.
Andererseits ist in bestimmten Moskauer Vierteln zu beobachten, dass Dienstleistungen
– von medizinischer Versorgung, religiöser Sorge über Kosmetik bis hin zu Stellensuche
und Kreditgewährung – explizit von Migranten für Migranten angeboten werden, wobei
auch hier der Fokus auf den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens liegt. In einem
solchen Bezirk wurden von den drei ForscherInnen mehrere Feldforschungen zu
unterschiedlichen Zeiträumen unternommen, die teilnehmende Beobachtung,
Gespräche und Interviews mit Akteuren wie Rezipienten beinhalteten. Ein gemeinsamer
Artikel mit einer Reflektion zur Frage, inwiefern sich ethnische Bezirke in einer Stadt
ohne vordergründig ethnische Bezirke konstituieren, ist in Vorbereitung.
Mit dieser vierten Veranstaltung findet die Reihe der Nachwuchsworkshops zu Themen
im deutsch-russischen Spannungsfeld ihr vorläufiges Ende. Weitere, dem Format
„Nachwuchs“ entwachsende Formen des Austauschs, der Zusammenarbeit und
Diskussion zwischen Deutschland und Russland, zwischen verschiedenen Disziplinen
und Forschungsschulen, sind von den sechs OrganisatorInnen bereits in Vorbereitung.
Ein gemeinsamer Artikel zu den Erfahrungen der Zusammenarbeit in den letzten Jahren
wird außerdem voraussichtlich im Jahr 2019 erscheinen.
Wir danken dem Schroubek-Fonds und Professor Roth für das in uns gesetzte Vertrauen
und die Möglichkeit, dass wir dieses Format zwischen NachwuchswissenschaftlerInnen
aus Russland und Deutschland entwickeln, konzipieren und durchführen konnten!