Sonderfonds Östliches Europa
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Verena Dohrn: Der Ölgroßhändler Chaim N. Kahan. Juden als Unternehmer und Wirtschaftsbürger im Russischen Reich (Forschungsprojekt)


Verena Dohrn, Leibniz Universität Hannover

Forschungsprojekt: „Der Ölgroßhändler Chaim N. Kahan. Juden als Unternehmer und Wirtschaftsbürger im Russischen Reich“

Der Schroubek-Fonds Östliches Europa förderte eine einmonatige Archivreise nach St. Petersburg. Sie ist Teil des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsvorhabens „Emigranten und Unternehmer als Wirtschaftsbürger. Die Ölgroßhändler Kahan zwischen Baku, Berlin und Palästina (1850-1950)“ (http://www.hist.uni-hannover.de/7984.html) und diente dazu, die Aktivitäten des Unternehmers Chaim N. Kahans (1850-1916) im Russischen Reich durch Archivdokumente zu belegen und die Lebens- und Arbeitswelt der Familie Kahan im historischen Stadtraum St. Petersburgs / Petrograds zu verorten.
Der jüdische Kaufmann der Ersten Gilde und Ölunternehmer Chaim N. Kahan aus Brest-Litowsk hatte sich über den Umweg nach Baku, die Hafenstadt und Ölmetropole in der Kaukasusregion am Kaspischen Meer, einen Platz in der russländischen Hauptstadt erobert. Seit dem Erwerb der Aktienmehrheit der etablierten Gesellschaft „Petrol‘“ (gegr. 1898) im September 1912 gehörten seine Unternehmen zu den führenden unter den kleineren Companies in der russländischen Ölbranche, die den ausländischen Großinverstoren „Brüder Nobel“ und Bankhaus Rothschild Konkurrenz machten. Dank „Petrol‘“ gelang es dem jüdischen Unternehmer kurz vor dem Ersten Weltkrieg (im September 1913) zwei weitere Aktiengesellschaften in St. Petersburg zu gründen: die „Kaukasus-Wolga-Handels- und Industrie AG“ mit Filiale(n) in Char’kov und Ekaterinoslav und die „AG Russisch-Baltische Mineralölwerke in Riga“. Während des Krieges, im Sommer 1916, erwarb die Familie überdies die Aktienmehrheit eines zweiten etablierten Unternehmens in der Region Baku: die „Binagadinsker Ölindustrie- und Handels-Aktiengesellschaft“ (gegr. 1899).
Die im Nachlass und in den Erinnerungen der Familie Kahan befindlichen zahlreichen Hinweise zu den Unternehmen, Aktivitäten und Aktienbeteiligungen im Russischen Reich wurden durch Funde vor allem im Russländischen Staatlichen Historischen Archiv (RGIA) in St. Petersburg belegt und ergänzt. Dort fanden sich informative Akten aus dem Ministerium für Handel und Industrie, dem Finanzministerium und dem Minister-Komitee, aber auch aus Bankhäusern (Petrograder Private Kommerzbank, Sibirische Handelsbank, Azov-Don-Kommerzbank) über die Aktiengesellschaften, an denen die Kahans seit 1912 mehrheitlich beteiligt waren.
Darüber hinaus wird im RGIA ein Kaufvertrag aufbewahrt, den Chaim Kahan im November 1913 mit Sultan Mehmed V., dem Herrscher des Osmanischen Reiches, über ein Grundstück in Jaffa von mehr als 300 Dunam (ca. 30 ha) für einen Kaufpreis von 31.500 Piaster (damals rund 180.000 Mark) abgeschlossen hatte. Dieser Fund ist ein weiteres Beweisstück dafür, wie groß Chaim Kahans finanzieller Einsatz für die Errichtung einer jüdischen Heimstatt in Palästina war. Er ist als großzügiger Förderer der religiös-zionistischen Partei „Misrachi“ und von deren Projekten in Palästina bekannt.
Weniger ergiebig als erwartet waren die Quellenfunde im Zentralen Staatlichen Historischen Archiv der Stadt St. Petersburg zur Präsenz der Kaufmanns- und Unternehmerfamilie in der russländischen Hauptstadt. Im Matrikelbuch der Jüdischen Gemeinde fanden sich Eintragungen über den Tod Chaim Kahans am 28. November 1916, im Auskunftsbuch über die Petrograder Kaufmannschaft Informationen über Gildemitgliedschaft, Wohnort, Familienstand, Unternehmen und Geschäftsadressen. Akten zur Stadtgeschichte gaben Informationen über die Häuser, in denen die Kahans ihr Kontor (Stremjannaja 6) bzw. ihre Wohnung (Troickaja 23, heute Rubinštejn 23) im Zentrum des alten Petersburg unterhielten.
Die Russische Nationalbibliothek bot die Möglichkeit, Fachliteratur, Auskunftsbücher und neue russische Forschungen zur Unternehmensgeschichte im ausgehenden Zarenreich zu sichten. Im Hinblick auf die Lebens- und Arbeitswelt der Kahans wertete ich Stadtpläne von Baku aus (Baku 1892, Tiflis 1913) und einen Aufsatz über das Landschloss Ljaliči in der Nähe von Brjansk, das sich der Favorit Katharinas der Großen Petr V. Zavadovskij (1739-1812) hatte bauen lassen und das Anfang des 20. Jh. der chassidischen Holzhändlerfamilie Golodec gehörte, mit der Chaim Kahan sich durch die Verheiratung seines Sohnes Pinchas mit Sina Golodec verband.
Kurzfristig wurde ich am Ende der Reise zu einem Workshop im Dom Russkogo Zarubež’ja im. Aleksandra Solženicyna [Haus des russischen Auslands namens Aleksandr Solženicyn] nach Moskau eingeladen, um dort über das verlegerische Engagement der Kahans in der Berliner Emigration zu berichten http://www.bfrz.ru/?mod=news&id=1387. Bei der Gelegenheit besuchte ich das neue Jüdische Museum, das sich durch originelle Unterbringung im konstruktivistischen Werkstattbau aus den 1920er Jahren und imposante technische, interaktive Aufmachung auszeichnet. Leider spielt dort die Geschichte der Juden im Wirtschaftsleben des Russischen Reiches eine untergeordnete Rolle.