Sonderfonds Östliches Europa
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Katrin Lehnert: Mobile Grenzen und die Grenzen der Mobilität: Alltagsmobilität im sächsisch-böhmischen Grenzraum des 19. Jahrhunderts (Dissertationsprojekt)

Katrin Lehnert

Mobile Grenzen und die Grenzen der Mobilität: Alltagsmobilität im sächsisch-böhmischen Grenzraum des 19. Jahrhunderts (AT) (Dissertationsprojekt)

In der Zeit meiner Förderung durch den Schroubek Fonds Östliches Europa arbeitete ich sowohl an der Erhebung, Systematisierung und Auswertung archivarischen Quellenmaterials als auch an der Kontextualisierung der Quellen durch ihre Einbettung in historische Hintergründe und die Erkenntnisse der Sekundärliteratur.

Die Verschriftlichung meiner Ergebnisse führte zu Kapiteln über Grenz- und Migrationstheorie, grenzüberschreitende Alltagspraktiken und kleinräumige Arbeitsmobilität sowie über die Geschichte der sächsisch-böhmischen Staats- und Konfessionsgrenzen. Einen hohen Stellenwert nahm dabei die Verschiebung der Staatsgrenze zwischen Sachsen und Österreich im Jahr 1849 ein, deren Auswirkungen auf das alltägliche Leben im Grenzgebiet in allen Kapiteln eine Rolle spielt. Auch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat vor dem Hintergrund der besonderen administrativen Stellung der Oberlausitz ist ein immer wiederkehrendes Thema, das die Besonderheit des untersuchten Grenzraumes im 19. Jahrhundert herausstreicht.

Es stellte sich heraus, dass die Staats- und Konfessionsgrenzen im Grenzraum der südlichen Oberlausitz eine weit zurückreichende, komplexe Geschichte haben, in der die Verwaltungsgrenzen von weltlicher und kirchlicher Macht eine zentrale Stellung einnahmen, ohne dass eine klare Regelung der Zugehörigkeit der Untertanen erkennbar wird. Als im 19. Jahrhundert von staatlicher Seite aus immer mehr Gewicht auf eine eindeutig definierte Staatsgrenze gelegt wurde, trat eine Reihe von Unklarheiten und Verunsicherungen zum Vorschein, die nicht selten zu handfesten Konflikten sowohl zwischen staatlichen und kirchlichen Organen, als auch zwischen sächsischen, preußischen und österreichischen Verwaltungsbehörden führten. Solche Konflikte zeigten sich beispielsweise in Fragen des konfessionell bedingten grenzüberschreitenden Kirchen- und Schulbesuches, aber auch des Warenschmuggels, der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität sowie der Mobilität der Einwohner im Grenzgebiet im Allgemeinen. Die durchgeführte Grenzverschiebung im Jahr 1849, deren Ziel es war, eine einheitliche, gerade und markierbare Staatsgrenze zu erlangen, verstärkte diese Konflikte und legte neue Differenzen offen, deren Beseitigung jedoch das Konzept einer geradlinigen Staatsgrenze bestärkten. Somit stellte sich in meiner Arbeit auch die Frage nach der Interdependenz zwischen den alltäglichen Praxen der Akteure im Grenzgebiet, den kirchlichen Interessen und der staatlichen Grenz- und Ausländergesetzgebung.

Der Fokus auf die alltäglichen Handlungspraxen im Grenzgebiet hat gezeigt, dass die An- und Einpassung der lokalen Bevölkerung in die staatlichen und konfessionellen Grenzregime einer kognitiven, durch Strafandrohung unterstützten Überzeugungsarbeit unterlag. Noch Ende des 19. Jahrhunderts waren beide Grenzen keineswegs im Alltag verankert, vielmehr schienen der Grenzbevölkerung die sozialen Grenzen viel augenscheinlicher zu sein. Konkret bedeutet dies, dass diverse Arten von Arbeits- und Freizeitmobilität im Grenzgebiet der südlichen Oberlausitz durch die betreffenden Akteure häufig ohne das Bewusstsein einer Grenzübertretung stattfanden, was teilweise langwierige Auseinandersetzungen mit staatlichen und kirchlichen Verwaltungsbehörden nach sich zog. Dieses Fehlen eines Migrationsbewusstseins wirft insbesondere Fragen an die Theorie der Migrationsforschung auf, die „Migration“ meist als Grenzüberschreitung und Entwurzelung definiert, dabei aber temporäre oder kleinräumige Wanderungen wie die von mir untersuchten ignoriert. Ich setzte daher die konkreten Untersuchungsergebnisse auch ins Verhältnis zu Migrations- und Grenztheorien. Die Grenzforschung ist bei dieser Problemstellung der Migrationstheorie im Vorteil, da sie reflektiert, dass territoriale Grenzen nicht nur einem permanenten Wandel unterlagen, sondern sich auch ihre Bedeutungszuschreibungen stetig wandelten und sie sich meist in Konkurrenz zu anderen Grenzen wie der sozialen oder der konfessionellen Grenze befanden. Grenzen und ihrer Überschreitung wird somit der objektive Charakter genommen, an seine Stelle tritt der spezifische soziale und historische Kontext. Dieser zeigt, dass viele Formen zeitgenössischer Mobilität sich einer Kategorisierung von „Migration“ und „Sesshaftigkeit“ entziehen. Somit muss die Mobilität der Bevölkerung an der Grenze – vom Einkauf im Nachbardorf und dem grenzüberschreitenden Schulbesuch über mobile Fabrik- und Bauarbeit, Tagelohn, Saisonarbeit und Hausierhandel bis zum Besuch von Verwandten, Messen und Jahrmärkten – vor dem Hintergrund der jeweils diskutierten Grenzvorstellungen gesehen werden, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts noch häufig änderten. Zu diesem Zweck habe ich Einzelfallanalysen durchgeführt, die zeigen, dass der Blick auf Grenzen je nach Akteursgruppe unterschiedlich ausfiel, aber meist einem einfachen Schema folgte: die Anerkennung von Grenzen und die Wahrnehmung ihrer Überschreitung war nicht zu trennen von individuellen pragmatischen und ökonomischen Bedürfnissen. Das Streben von Staat und Kirche nach einheitlichen und zusammenhängenden Machtbereichen stand diesen Bedürfnissen nicht selten diametral entgegen, wobei beide Positionen gemeinsam an der Ausbildung eines nationalen Grenzregimes beteiligt waren.