Sonderfonds Östliches Europa
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Evelyn Reuter: Dynamiken der Re-Organisation und Re-Figuration bei Halveti-Derwischen in Südosteuropa: Eine ethnographische Fallstudie in Nordmazedonien (Forschungsprojekt)

Evelyn Reuter

Dynamiken der Re-Organisation und Re-Figuration bei Halveti-Derwischen in Südosteuropa: Eine ethnographische Fallstudie in Nordmazedonien

Das vom Schroubek-Fonds Östliches Europa geförderte Forschungsprojekt wurde in der Zeit vom November 2019 bis April 2020 mit einem Feldforschungsaufenthalt im Januar 2020 durchgeführt. Das Projekt diente als Vorstudie der Vorbereitung eines transnational angelegten PostDoc-Projekts zu dem Halveti-Orden als Teil einer geplanten Großstudie zu ordensübergreifenden Netzwerken im postsozialistischen Südosteuropa. Infolgedessen sind die gewonnenen Erkenntnisse in Bewerbungen und Drittmittelanträge eingeflossen bzw. werden weiterhin einfließen, um das Projekt weiterzuführen. Zudem werde ich erste Zwischenergebnisse auf einem Workshop im Juni 2020 zur Diskussion stellen. Allgemein beschäftigt sich der Workshop mit der diskursiven Herstellung von Mehrheiten und Minderheiten in medialen Debatten. Mein Beitrag wird sich exemplarisch mit dem Verhältnis der Halvetis zu der nicht-sufischen Sunnimehrheit beschäftigen, das sich in den sozialen Medien wiederspiegelt. Geplant war außerdem die Teilnahme an einem weiteren Workshop, zur Reflektion der Figurationstheorie von N. Elias als theoretischen Unterbau der Studie, der jedoch ausgefallen ist.

Kurze Projektbeschreibung

Vor dem Hintergrund aktueller Transformationsprozesse untersuche ich die sich wandelnde Bedeutung von Religion im Spannungsfeld der Politik postsozialistischer Länder Südosteuropas. Der Wandel spiegelt sich auch in Organisationsdynamiken religiöser Minderheiten wider. Insbesondere religiöse Minderheiten, die zu sozialistischer Zeit stark zurückgedrängt worden waren, greifen dafür auf historisch gewachsene Strukturen zurück. Sie stehen allerdings vor Herausforderungen, sich von größeren Religionsgemeinschaften abzugrenzen oder sich an diese anzulehnen. Das wirft die Forschungsfrage auf, wie sich die figurativen und organisatorischen Aushandlungsprozesse religiöser Minderheiten gestalten. Dabei müssen interne Faktoren wie historisch-gewachsene Ordensstrukturen ebenso wie externe Einflussfaktoren berücksichtigt werden, zu denen etwa staatliche Interessen und Religionsgesetze gehören. Diese Dynamiken der Neuverortung und -vernetzung analysiere ich mit Theorien des religiösen Felds (Bourdieu) und zu Figurationen (Elias). Sufi-Orden eignen sich für eine solche Analyse, weil auch sie vor dem Hintergrund der anhaltenden politischen und sozio-ökonomischen Transformationsprozesse sich in einer Umstrukturierungsphase befinden, die diese Dynamiken zum Vorschein bringt. Sie müssen viele Aspekte neuverhandeln, die sich in dem Spannungsfeld von Politik und Religion verorten lassen. Das zukünftige Forschungsprojekt widmet sich dem Sufi-Orden der Halvetis, die im Osmanischen Reich einer der einflussreichsten Sufi-Orden waren und es bis heute geblieben sind. Die Vorstudie beschäftigte sich exemplarisch mit den Halvetis in Nordmazedonien aufgrund früherer Feldkontakte, die den Einstieg in die Forschung erleichterten.

Erste Zwischenergebnisse

Postosmanische Netzwerke: Die Netzwerke der Sufi-Orden wurden insbesondere durch die postosmanische Grenzziehung und die Religionspolitik sozialistischer Systeme beeinflusst. Beispielsweise entstanden neue Beziehungen in die Türkei, da zur Zeit Jugoslawiens einige Verwandten der Scheich-Familie der Halveti-Hayati aus Ohrid wie andere Teile der türkischen Bevölkerung nach Izmir auswanderten. Zudem entstanden bereits im ehemaligen Jugoslawien weitere internationale Kontakte durch die Studienaufenthalte von angehenden Imamen, die gleichzeitig auch in einer Sufi-Tradition aufwuchsen oder sogar die Position eines Scheichs übernehmen sollten. Gleichzeitig gibt es auch islamische Theologiestudenten, die erst mit dem Studium in Kontakt mit sufischen Traditionen kommen und die daraufhin einem solchen Orden beitreten. Ein Beispiel dafür sind in Nordmazedonien die Halveti-Jerrahis, die sich vor einigen Jahren in Tetovo ohne Vorgeschichte ganz neu etablierten. Folglich können historische Tekken und Kontakte nicht nur wiederaufleben, sondern auch neue Tekken und Beziehungen entstehen. Diese postosmanischen Netzwerke bestehen vorrangig aus Männern. Frauen können sich zwar in den Orden initiieren lassen, sind aber in der Unterzahl und übernehmen keine öffentliche Aufgabe.

Globalisierung: Aufgrund von Migrations- und Fluchtbewegungen zeichnen sich zudem zunehmend finanzielle und politische Interdependenz nicht nur mit anderen postosmanischen Gebieten, sondern auch mit den ‚modernen westlichen‘ Ländern Europas, Nordamerikas sowie Australien ab. Beispielsweise wurde die Ausweitung des Sufi-Netzes nach Deutschland unter anderem durch die Anwerbung von Gastarbeiter/innen angeschoben. Allerdings gingen seltener diejenigen ins Ausland, die eine hohe Position wie die eines Scheich bekleideten, da sie auch ein auf religiösen Diensten basierendes Einkommen hatten. Vielmehr suchten Mitglieder aus den Gemeinden Arbeit im Ausland und konnten mit ihrem Lohn, ihre Familien und Gemeinden in der Heimat unterstützen. Die Idee, Deutschland und andere Länder Westeuropas, brauchen tüchtige (und auch ungelernte) Arbeitskräfte kursiert noch immer in der Bevölkerung. Zudem wurde das Leben der Emigrierten zum Vorbild und rief den Wunsch der Nachahmung hervor, der mithilfe von Familiennachzug und Heirat sowie familiären Netzwerken realisiert wird. Die Netzwerke der Sufi-Orden sind davon nicht ausgenommen. Daneben verändern sich Islamdebatten in Nordmazedonien auch durch arabisch-islamische Einflüsse. Einflussfaktoren sind Studienaufenthalten im Ausland, Finanzierung von Moscheen und Tekken aus dem Ausland sowie Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, die Mazedonien als Teil der Balkanroute passieren. Auch die Berichterstattung in verschiedenen Medien belebt die Aushandlungsprozesse der Sufis mit der sunnitischen Mehrheit zwischen liberalen Anhänger/innen der Gülen-Bewegung (fetullaci) und radikalen Islamist/innen.

Medialisierung: Diese Mobilität geht offenbar mit einem erhöhten Kommunikationsbedarf einher, um Kontakte in verschiedene Länder zu pflegen, der sich auch in den sozialen Medien widerspiegelt. Vor allem zeigte sich die Tendenz, dass größere und (historisch) bedeutsamere Ortsgruppen eine eigene Internetpräsenz v.a. bei Facebook haben, auf der Videos, Bilder und philosophische Texte öffentlich geteilt werden. Gelegentlich werden auch andere social media Plattformen oder Blog verwendet, um Inhalte zu kommunizieren. Folglich legt dieses Forschungsprojekt die systematische Analyse von social media Einträgen als Teil der zukünftigen Studien nahe.

Sprache und politische Identität: Innerhalb der medialisierten und globalisierten Gruppen scheinen neben der Ortsgebundenheit auch die traditionellen ethnischen Gruppengrenzen in den Reihen der Mitglieder langsam aufzuweichen. Infolgedessen werden die Angebote in einigen Tekken mindestens zweisprachig, türkisch und albanisch, abgehalten. Diese Sprachkompetenz scheint konträr zu Debatten im Bildungssystem bzgl. der Unterrichtssprache zu stehen. Interessen staatlicher Institutionen oder der national agierenden Islamischen Religionsgemeinschaft beeinflussen die Ortsgruppen dagegen scheinbar kaum, obwohl loser Kontakt zu den verantwortlichen Muftiaten besteht.

Tourismus: Im Gegensatz zu „tanzenden und heulenden Derwischen“, die teils für touristische Zwecke vermarktet werden, sind die Halvetis in Nordmazedonien kaum präsent in der Öffentlichkeit – abgesehen von ihrer Architektur. Tourist*innen gegenüber sind sie eher verschlossen, ernsthaft Interessierten öffnen sie sich jedoch. Aufgrund der türkischen Prägung interessiert sich auch die Türkei gelegentlich für die Tekken, was sich ebenfalls in sozialen Medien zeigt.