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Lukas Dovern: Die Erziehung einer neuen Gesellschaft. Aufwachsen in der jungen Volksrepublik Polen (Masterprojekt)

Lukas Dovern

Die Erziehung einer neuen Gesellschaft. Aufwachsen in der jungen Volksrepublik Polen (Masterarbeit)

In einem polnischen Erziehungsratgeber aus den 1960ern findet sich einleitend das Zitat eines Staatsbeamten der polnisch-litauischen Republik aus dem Jahre 1600: „Solcherart werden die Republiken, wie die Erziehung ihrer Jugend“. Im Umkehrschluss bedeutet dieser Satz: Wer die Republik verändern möchte, der muss bei der Erziehung der Jugend ansetzen. Dieser Leitgedanke prägte die Pläne einer wissenschaftlichen und politischen Elite, die sich seit den Anfangsjahren der Volksrepublik Polen bis zum Ende der sechziger Jahre mit dem Themenkomplex Familie und Erziehung beschäftigte. In meiner Masterarbeit wird genauer untersucht, mit welcher Intention und mit welchen Mitteln der junge sozialistische Staat in den Nachkriegsjahren versuchte, in den Alltag polnischer Väter, Mütter, Kinder und Jugendlicher einzugreifen. Es wird gezeigt, welche Rolle das von der Parteiführung propagierte Familien- und Erziehungsideal sowie die staatliche Familienpolitik im Rahmen des einen großen politischen Projekts der polnischen Nachkriegszeit spielte: der Etablierung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Auch wenn familiärer Alltag damit ganz klar als ein zentraler Gegenstand der Arbeit benannt wurde, so bietet sie keine Alltagsgeschichte. Die Herangehensweise an das Thema ist ganz klar top-down. Es werden Politikerreden und Gesetzestexte berücksichtigt – und doch wird keine klassische Politikgeschichte geschrieben. Im Zentrum der Analyse steht nämlich ein anderer Quellentypus: Ratgeberliteratur für Eltern. Da sie in staatlich kontrollierten Verlagen erschienen, ermöglichen es Erziehungsratgeber, einen breiteren, politisch gesteuerten Diskurs über die Familie in den Blick zu nehmen, an dem längst nicht nur Politiker, sondern auch Pädagogen, Psychologen, Soziologen, Ärzte und andere Fachleute beteiligt waren. Sie alle stellten ihre Expertise in den Dienst der sozialistischen Machthaber. Das politische Projekt des planmäßigen Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, das sich auf echte und vermeintliche Experten stützte, legt damit die Frage nahe, inwiefern die Erziehungsbemühungen des Staates als social engineering verstanden werden können. Auch dieser Frage wird in der Arbeit nachgegangen.

Entgegen weit verbreiteter Vorstellungen wollten die neuen sozialistischen Machthaber die Erziehung nie vollständig verstaatlichen; die Parteiführung akzeptierte den familiären Einfluss auf die heranwachsende Generation. Entsprechend versuchte sie, die Familie nach ihren Vorstellungen zu prägen. Es kann allerdings zu unterschiedlichen Zeiten eine unterschiedliche Gewichtung zwischen häuslichen und staatlichen Erziehungswelten festgestellt werden: In den Nachkriegsjahren und der Ära Bieruts knüpfte man größere Hoffnungen an die Möglichkeiten staatlicher Erziehung als in der Regierungszeit Gomułkas, der 1956 die Macht übernahm und wieder die herausgehobene Bedeutung der Eltern, vor allem der Mütter, für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen betonte. Neben dem Verhältnis zwischen staatlicher und familiärer Erziehung sowie den Inhalten und Methoden sozialistischer Familienpädagogik diskutiert die Arbeit auch den Versuch der verschiedenen Experten, eine neue, gerechtere Rollenverteilung zwischen Müttern und Vätern zu etablieren – und wie sie damit scheiterten.

Die Sichtung und Auswertung des Quellenmaterials fand in der polnischen Nationalbibliothek im Rahmen eines mehrwöchigen Warschau-Aufenthaltes statt, der durch ein großzügiges Stipendium des Schroubek Fonds Östliches Europa finanziert wurde.