Sonderfonds Östliches Europa
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Nora Isterheld: Sprachkurs Russisch in St. Petersburg

Sprachkursstipendium

Drei Monate in Sankt Petersburg: Unbezahlbar!

Ich habe dem Schroubek Fonds Östliches Europa in mindestens zweifacher Hinsicht sehr herzlich zu danken, und zwar für die Auszeichnung meiner Doktorarbeit sowie für die Bewilligung eines Sprachkurs-Stipendiums. Mit insgesamt 3000 Euro und einer Mobilitätsbeihilfe vom Bayerischen Hochschulzentrum für Mittel-, Ost- und Südosteuropa (BAYHOST) konnte ich Ende 2018 einen Traum wahrmachen und drei Monate in Sankt Petersburg leben, lernen und forschen: Einfach unbezahlbar!

Dass ich den alten Kreditkarten-Slogan als Einstieg gewählt habe, ist übrigens kein Zufall. Als in Russland wegen Datenmissbrauchs überraschend meine Visacard gesperrt wurde, musste ich die hohen Gebühren der Girokarten in Kauf nehmen und Leihgaben von Freunden in Anspruch nehmen. Aber es gibt Schlimmeres als kurze Zeit auf teure und treue Dienste angewiesen zu sein. Langfristig habe ich nur gewonnen, auch an heiterer Gelassenheit. Während meines Aufenthalts wurde ich gleich mehrmals aufs Trockene gesetzt. Nicht nur der Geldhahn wurde abgedreht, sondern auch die Wasserleitung. Wegen einer Havarie auf der Wassiljewski-Insel fiel erst tagelang die Dusche aus, dann die Heizung.

Mit Humor nahm ich auch das Einschreibungsprozedere an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg auf. Das Sekretariat schickte zwar im Vorfeld eine Einladung, einladend darf man sich die aber nicht vorstellen. Auch auf Nachfrage erhielt ich keinerlei Informationen zu Zahlungsmodalitäten, Einstufungsverfahren, Unterrichtszeiten, Materialien usw., weshalb all das erst vor Ort geklärt werden konnte. Die erste Woche wurde ich von Pontius zu Pilatus geschickt und fühlte mich wie bei Asterix und Obelix, die auf der Jagd nach dem Passierschein A 38 kreuz und quer durch das berühmte Haus geschickt werden, "das Verrückte macht".

Leider blieb die Lage auch noch dann undurchsichtig, als ich meinen Sprachkurs endlich begonnen hatte. Das Sprachniveau der Gruppe war heterogen, die Qualität der Lehrveranstaltungen ebenfalls. In der Folge wechselte ständig irgendjemand die Klasse, weil die Lektürestunde entweder viel zu langweilig oder die Grammatikdozentin zu streng war. Ich machte das Wechselspiel einmal mit, nur um festzustellen, dass die Problematik klassenübergreifend war. Es gab wohl kein System, außer dass die Dozenten systematisch unterbezahlt und entsprechend motiviert waren.

Ich habe mich während meines Aufenthalts trotzdem rundum wohl gefühlt, zumal ich in Forschung und Freizeit einen schönen Ausgleich fand. In der Literaturhauptstadt Sankt Petersburg fiel beides idealerweise zusammen.

Auffallend viele von den AutorInnen, über die ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, wurden in Leningrad geboren. In vielen Texten tauchen daher Petersburg-Motive und zahlreiche Bezüge zu Klassikern der Stadtliteratur auf. Vor Ort hatte ich Gelegenheit, den spezifischen Wechselwirkungen von Raum und Text nachzugehen – und den Spuren transkultureller Erinnerungsprozesse zu folgen. Wlada Kolosowas Jugendroman „Fliegende Hunde“ (2018), auf den sich meine Untersuchungen konzentrierten, greift ein Geschichtsnarrativ auf, das jungen Lesern in Deutschland weitgehend unbekannt ist. Die „Leningrader Blockade“ präsentiert Kolosowa nicht als trockene Geschichtserzählung, sondern als provokante Mischung aus Kultur- und Adoleszenzthemen, die quer zum offiziellen Stadtmythos und queer zu heteronormativen Geschlechterrollen stehen.

„Leningrad revisited“ habe ich das Forschungsprojekt genannt. Mit „Petersburg revisited“ wiederum könnte ich meinen Zukunftsplan überschreiben. Denn ich habe auf jeden Fall vor, zurückzukehren. Alles, was ich dafür brauche, ist ein Visum und eine neue Visa.

Nora Isterheld