Sonderfonds Östliches Europa
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Cornelia Soldat: Erschreckende Geschichten. Gewalt in der Darstellung von Osmanen und Moskowitern in den deutschen Flugscjriften des 16. und 17. Jahrhunderts (Forschungsprojekt)

Dr. Cornelia Soldat

Erschreckende Geschichten. Gewalt in der Darstellung von Osmanen und Moskovitern in den deutschen Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts

Bericht über die Durchführung des Forschungsprojektes

Die Arbeitsthese des Projektes lautet: Seit dem 16. Jahrhundert hat sich in der deutschsprachigen Flugschriftliteratur ein stereotypes Feindbild der Moskoviter entwickelt, das auf dem seit dem 15. Jahrhundert ebenso stereotypen Feindbild der Osmanen aufbaut.

Der jetzige Arbeitstitel des Projektes entstand während eines Forschungsaufenthaltes an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Er schränkt die Arbeitsthese des Projektes auf eine Analyse von Gewaltdarstellungen ein, so dass eine kohärente Studie geschrieben werden konnte.

Während der durch den Schroubek-Fonds Östliches Europa geförderten Forschungsaufenthalte in der Herzog-August-Bibliothek, der Staatsbibliothek zu Berlin und der Bayrischen Staatsbibliothek in München konnten etwa 188 Flugschriften zu Moskovitern und Osmanen im 16. und 17. Jahrhundert in einer Datenbank gesammelt werden. Da die gesammelte Datenmenge bereits sehr groß war, wurde auf weitere Forschungsaufenthalte verzichtet und statt dessen die Analyse und Struktur für die zu schreibende Studie konzipiert.

Es stellte sich zunächst heraus, dass eine große Ansammlung gerade der Moskoviter Flugschriften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen sind. Die Analyse erhält so einen Schwerunkt in dieser Zeit.

Während des Forschungsaufenthaltes in Berlin kristallisierten sich zudem drei inhaltliche Analyseschwerpunkte der Studie heraus, Gewalt und sexualisierte Gewalt, Autorschaft und Authentizität sowie die Funktion der Flugschriften in der Reichspolitik jener Zeit.

Im ersten Analyseschwerpunkt wird gezeigt, wie sich die Moskoviter Flugschriften durch die Benutzung bekannter Stereotypen in den Diskurs der Türkengefahr im Reich einschreiben. In den Flugschriften wird die Gewaltdarstellung zunehmend gesteigert, wobei sexualisierte Gewalt als Steigerung allgemeiner Gewaltdarstellungen funktioniert.

Die Gewaltdarstellungen rufen eine allgemeine Angst wie die vor der Türkengefahr hervor und funktionieren als Triebabfuhr in einer Zeit, in der auf Keuschheit, Enthaltsamkeit und allgemein auf Selbstbeherrschung im Zuge des Prozesses der Zivilisation (N. Elias) und der Reformation und Gegenreformation mehr Wert gelegt wurde. Gewaltdarstellungen in Flugschriften haben die gleiche Funktion wie die im 16. Jahrhundert umgeschriebenen Märtyrerlegenden, in denen Festigkeit im Glauben unter immer grausamer werdenden Foltern propagiert wird. Die Gewaltdarstellungen in Flugschriften werden stereotyper oder teilweise bis ins Groteske übertrieben dargestellt. Dies führt zu einem Glaubwürdigkeitsproblem bei den Flugschriften.

Der zweite Analyseschwerpunkt zeigt, wie in Flugschriften durch paratextuelle Rahmung eine Glaubwürdigkeit der sich bis zur Groteske steigernden Gewaltdarstellungen erreicht wird. Diese Rahmung wird um so stärker, je gewaltsamer und stereotyper die Darstellungen sind. Gerade die Moskoviter Flugschriften weisen zum Ende des 16. Jahrhunderts immer mehr Paratext wie Widmungen, Vorworte, Indexe usw. auf.

Im dritten Analyseschwerpunkt wird gezeigt, dass nicht nur die Türkengefahr ein ständiger Tagesordnungspunkt auf den Reichstagen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war. Zur gleichen Zeit wurde auch die mehr zur Einführung von allgemeinen Reichssteuern und wurde durch die in Flugschriften dargestellte „Türkengefahr“ motiviert. Die gleiche Funktion hat die Warnung vor den Moskovitern in Flugschriften. Sie führte zur Bewilligung von Reichssteuern, die teilweise nicht zur Livlandhilfe, sondern zur Tilgung von Reichsschulden eingesetzt wurde. Die „Moskoviter Gefahr“ diente analog der „Türkengefahr“ der Entwicklung des frühneuzeitlichen Territorialstaates mit absoluten Fürsten und durch allgemeine Steuern finanzierte Ordnungsapparate.

Dieser letzte Analyseschwerpunkt macht ein großes Novum der Analyse der Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts über Moskoviter und Osmanen aus. Die Analyse von Gewaltdarstellungen zeigt, dass die Gewaltstereotypen, die seit dem 15. Jahrhundert den Osmanen zugeordnet werden, mit Beginn des Livländischen Krieges 1559 im Reich in den Flugschriften über Moskoviter benutzt wurden. Je häufiger Steuern auf den Reichstagen gefordert wurden, desto gewaltsamer werden die Darstellungen. Es wird außerdem eine größere paretextuelle Rahmung der Flugschriften vorgenommen, die die Auktorialität und Glaubwürdigkeit der Flugschriften mit ihren zum Teil grotesken Gewaltdarstellungen herstellen soll.

Die Analyse der Gewaltdarstellungen zeigt außerdem, dass innerhalb der Moskoviter Flugschriften die Darstellung von Gewalt im Livländischen Krieg an einen anderen Ort verlegt wird. Die anti-Osmanischen Stereotypen werden benutzt, um die Gewaltherrschaft des russischen Zaren in seinem Reich, die in der osteuropäischen Forschung unter dem Namen Opričnina bekannt ist, zu beschreiben. Die Verlagerung der Gewaltdarstellungen aus Livland als Reichsgebiet in das Gebiet des Moskoviter Staates kann als Steigerung der Gräuel innerhalb des Flugschriftendiskurses verstanden werden. Dies wirft ein neues Licht auf die Glaubwürdigkeit der Darstellungen der Opričnina. Die untersuchten Flugschriften stellen fast die einzigen zeitgenössischen Quellen zum Terrorregime Ivans IV. dar.

Flugschriften über Osmanen und Moskoviter haben einen nachhaltigen Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis im Reich. Die Stereotypen funktionierten im 20. Jahrhundert genau so gut wie im 16. und 17. Jahrhundert, in populären Darstellungen ebenso wie in wissenschaftlichen.

Die mit dem Leopold-Kretzenbacher-Stipendium fertiggestellte Studie wird im Edwin-Mellen-Verlag erscheinen. Der Verlag hat die Studie angenommen und bereits vor Drucklegung mit dem „Adele Mellen Prize for Distinguished Contribution to Scholarship“ ausgezeichnet.