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Workshop: Eigen-Sinn: Herrschaft als soziale Praxis in Ostmitteleuropa nach 1945

Eigen-Sinn: Herrschaft als soziale Praxis in Ostmitteleuropa nach 1945. Ein internationaler Workshop für Nachwuchswissenschaftler
Veranstalter/innen: Kornelia Kończal (Florenz); Jonas Grygier (Frankfurt an der Oder); Caroline Garrido (Rennes/Berlin)
Datum, Ort: 16.10.2014 – 18.10.2014, Frankfurt an der Oder

Bericht von:
Magdalena Kamińska, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Frankfurt an der Oder (kaminska@europa-uni.de),
Jan Vondráček, Lehrstuhl für Neuere und Neuste Geschichte, Bergische Universität Wuppertal (vondracek@uni-wuppertal.de)

Das von Alf Lüdtke entwickelte Konzept des „Eigen-Sinns" diente ursprünglich dazu, das Ausbleiben des Arbeiterwiderstands nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und die Stabilität der NS-Herrschaft begreiflich zu machen. Später wurde es vor allem im Zusammenhang mit der DDR-Alltagsgeschichte angewendet. „Eigen-Sinn“ ist ein Erklärungsmodell für die Stabilität von Herrschaftsordnungen und darin abweichend handelnder oder sich fügender Individuen. In der Interpretation und Auswertung von Ego-Dokumenten oder Praktiken bzw. „Handlungstexten“, wird der selbst erklärte Sinn, ergo „Eigen-Sinn“, ihres Handelns sowie ihre Motivation sichtbar. Aber auch kollektive, gesellschaftliche Vorgänge und soziale Dynamiken lassen sich damit beschreiben (beispielsweise Ausreiseanträge in der DDR).
Gegenwärtig arbeitet nun bereits die vierte „Generation“ an Historiker/innen mit diesem Konzept und es zeigt sich, dass sich die Forscherinnen und Forscher vom ursprünglichen Untersuchungskontext, der Lebenswelt des Arbeiters, weitestgehend gelöst haben und das Konzept des Eigen-Sinns auf unterschiedlichen Feldern anwenden, in denen Herrschaft eine zentrale Rolle spielt.
Der Workshop, organisiert von Kornelia Kończal (Florenz), Jonas Grygier (Frankfurt an der Oder) und Caroline Garrido (Rennes/Berlin), bot Doktoranden/innen die Möglichkeit, anhand ihrer Arbeiten die konkrete Anwendung des Lüdtkeschen Konzepts in Bezug auf das sozialistische Ostmitteleuropa nach 1945 vorzustellen und zu diskutieren. Der Workshop war in vier Panels unterteilt. Das erste befasste sich mit Herrschaftsordnungen, das zweite mit In- und Exklusionen, das dritte mit Eigentum und das vierte mit Konsum- und Freizeitverhalten.
In seinem Impulsreferat betonte THOMAS LINDENBERGER (Potsdam), dass das „Eigen-Sinn“-Konzept nicht bedingungslos als „Exportschlager“ bezeichnet werden könne, obwohl gerade nicht-deutsche Rezipienten die Begrifflichkeiten weniger missverständlich anwenden und „Eigen-Sinn“ differenzierter übersetzen. Dennoch sei das Konzept nicht direkt übertragbar und müsse in jeder Sprache neu diskutiert werden. Lindenberger führte Lüdtkes Definition aus dem Glossar des ins Englische übersetzten Bandes zur Alltagsgeschichte an, in der das Wort „selbst“ eine zentrale Rolle spiele. Vor allem die häufige Gleichsetzung mit Widerstand verfehle völlig die Bedeutung des Begriffs. Wichtiger sei hingegen die Abwesenheit von Widerstand, wie bei der Fügsamkeit von Arbeitern in einer Fabrik: Wie erklärt man, dass Arbeiter solchen Verhältnissen einen Lebenssinn und eine Motivation abgewinnen können? Oder sich gar als willenlose Instrumente einer (ideologischen) Manipulation darstellen lassen? Durch diesen Perspektivenwechsel könne den Akteuren ihr Selbst in historiographischer Rekonstruktionsarbeit zurückgegeben werden, worin das Konzept auch eine ethische Dimension gewinne. Lindenberger schloss seinen Vortrag mit einer Warnung: Das Konzept erfordere sorgfältige Rekontextualisierung, sonst verführe es zu Oberflächlichkeit und etikettenhafter Übertragung.
Im ersten Panel, das den Titel „Herrschaftsordnungen“ trug, untersuchte ESZTER KISS (Potsdam) die Wege der Fotografien im Staatssozialismus, die sich im sozialistischen Ungarn 1965 und 1989 mit einer Bildpolitik und Bildsteuerung konfrontiert sahen. Wie haben die Fotografen, Redakteure und Entscheidungsträger gearbeitet? Welche Fotografien galten unter besonderen Rahmenbedingungen von wem als (nicht) akzeptabel? Mehrdeutige Sichtweisen auf ein Bild seien die Regel gewesen und jeder Anschein von Steuerung und Einflussnahme von außen sollte vermieden werden. Das Verhältnis zur Pressesteuerung sei zwiespältig und die Arbeit zwischen den verschiedenen Akteuren eine Mischung aus Kooperation und Tauziehen gewesen, weshalb sie wissen möchte, unter welchen Leitlinien Bildmaterial veröffentlicht oder zensiert wurde, und welche Rolle die Zunahme der Eigenwirksamkeit der Redakteure dabei spielte.
LENA KUHL (Berlin/Erkner) fragt nach der Gestaltung eines „Eigen-Sinns“ in der „einheitlichen Staatspolitik“ sozialistischer Lebenswelten durch Verwaltung und Fachplanung der mittleren Ebene in der DDR. Inwieweit folgte die Praxis des Staatsapparates der Logik zentraler Beschlüsse und wie konsequent war die Durchführung? Welche „eigen-sinnigen“ Vorstellungen hatten die örtlichen Organe? Welchen Handlungsspielraum konnten sie in den Phasen des Städtebaus und der Territorialplanung nutzen? Anhand von Zeitzeugeninterviews betreibt sie eine Netzwerkanalyse von kommunaler Ausschreibung bis zur Planwirtschaft. Dabei interpretiert sie die Urbanisierung als Gestaltungsfeld zwischen gesellschaftlichen Lebenswelten und politischer Vereinnahmung. Ihre Akteure bewegten sich teilweise im Graubereich, in dem es Spielräume gab, wie bei Wettbewerbsausschreibungen. Zwar hielten sie sich an bestehende Verwaltungsstrukturen, doch gerade Dokumente auf lokaler Ebene seien besonders ergiebig, da die „kleinen Bürgermeister“ die Sprachcodes nicht beherrschten.
JONAS GRYGIER (Frankfurt an der Oder) legte anhand der Regionalpläne der Wojewodschaft Breslau die soziale Praxis von Verwaltung in der Volksrepublik Polen dar und untersuchte den Anteil lokaler und regionaler Verwaltungsinstanzen bei der Umsetzung sozialistischer Staatlichkeit. Wie kann man eine Region angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen gestalten und planen? Welche (politischen oder gesellschaftlichen) Kräftefelder wirken dabei? Auf der einen Seite wollten die Beamten gute Berichte liefern, um ihre eigene Karriere zu fördern, andererseits hielten sie daran fest, ihre Region mitzugestalten. Seit den 60er Jahren ist die Tourismuspolitik ein fester Bestandteil im sozialistischen Polen, aber da sie für Verwaltungsfunktionäre schwer kontrollierbar blieb, fanden erst in den 70ern Lockerungen statt. Wie diente Tourismus als Verwaltungsinstrument in der Verwaltungspraxis? Grygier interpretiert den Willen der Beamten, den Tourismus in ihrer Region zu lenken, als Versuch einer Rückgewinnung ihrer Handlungsgewalt. Eine Aufteilung in Paradigmen, Programme und Strategien soll helfen, aus den Verwaltungsdokumenten den „Eigen-Sinn“ der Beamten herauszukristallisieren.
Im Panel „In- und Exklusionen“ stellte UTA KARSTEIN (Dresden) ihre Dissertation vor, in der sie sich mit dem Staat-Kirche-Konflikt in der DDR beschäftigt. Ihren Fokus legt sie auf die Auswirkung des Konflikts auf subjektiver Ebene und die „Eigensinnigkeiten“, welche sich im Umgang mit institutionalisierten Deutungsangeboten entfalteten. Karstein geht von Pierre Bourdieus Konzept der sozialen Felder (Praxeologie) aus. Sie stellt die These auf, dass zwischen den verschiedenen Akteursgruppen des religiösen und politisch-staatsbürokratischen Feldes sowie zwischen Experten und Laien Zwischenfelder entstünden. Dabei interessieren sie Nähe und Ferne der Träger zu Staatspartei und/ oder Kirchen, unterschiedliche Positionierungen zwischen „Ausschließlichkeit“ (Staatstreue), über „Loyalität“ bis wieder zur „Ausschließlichkeit“ (Abweisung des Staatlichen), wobei sie letzteres als eine Form des „Eigen-Sinns“ interpretiert.
MATĚJ KOTALÍK (Potsdam) zeigt in seiner Dissertation, wie der Begriff des „chuligán“ (dt. etwa Rowdy) in der sozialistischen Tschechoslowakei „eigen-sinnig“ verstanden und vor allem inflationär verwendet und dadurch beliebig gemacht wurde. Er zeigt, dass der Begriff gewaltbereites Verhalten, aber auch Arbeitsscheu, Tanz, Kleidung, Stil umfasste. Anhand publizistischer Debatten der 1950er, 60er und beginnenden 70er Jahre zeichnet er die Verwendung des Begriffs nach. Dabei spielte unter anderem der bestehende Generationskonflikt, gerade in der Arbeitswelt, eine zentrale Rolle. Hier wurde die Jugend durch ihre Nicht-Integration erst als Potential und dann als Gefahr gesehen. Kotalík weist das Auseinanderfallen von Regime und Jugend und die Diskussionen zum Begriff „chuligán“ in verschiedenen Medien nach.
Im Panel „Eigentum“ stellte KORNELIA KOŃCZAL (Florenz) die Inhalte ihrer Dissertation zur Debatte. Sie sei über Zeitzeugen auf das Phänomen der Plünderung in den an Polen angegliederten ehemaligen deutschen Ostgebieten nach 1945 aufmerksam geworden. Es habe sich gezeigt, dass es keine klare Linie zwischen Plünderern und „Pionieren“ (vorbildlichen polnischen Neuansiedlern) gab. Zwar ging der Wiederaufbau der gesellschaftlichen Ordnung nach dem Krieg mit den Zielen „Sicherheit“ und „Ordnung“ einher, doch prallten unterschiedliche Eigentumsvorstellungen aufeinander. Das Plündern deutet Kończal als soziale Praxis und Aneignungsstrategie. Am Beispiel des Begriffes „Eigentum“ lässt sich in Gerichtsakten überprüfen, inwiefern die Behörden, die teilweise sogar selbst in die Plünderungen involviert waren, das Plündern tolerierten und legitimierten.
RÜDIGER SCHMIDTs (Münster) Ansatz besteht darin, Enteignungspolitik als soziale Praxis zu interpretieren. Er deutet „Eigen-Sinn“ als Schnittstelle zwischen Lebenswelt und Administration. Untersucht hat er hierfür an die Zentrale Deutsche Kommission (ZDK) eingegangene Petitionen gegen in Brandenburg beschlagnahmte Betriebe von 1946 bis 1948, deren Inhaber nach dem Krieg (noch) nicht zurückgekehrt waren. Sie argumentierten mit „persönlicher Härte“ oder damit, dass es sich um einen Anschuldigungsirrtum handele. Realistisch habe es jedoch keine Einspruchsmöglichkeit gegeben, denn die Sequestrierung war eine politische Entscheidung, bei der nicht ausgeschlossen war, dass Parteimitglieder sich selbst umgingen oder gar bereicherten.
Im Panel „Konsum- und Freizeitverhalten“ zeigt JAN KLEINMANNS (Bonn) anhand des Sports in der DDR, wie 1949-1975 eine öffentliche Sphäre in der gemeinschaftlichen Lebenswelt konstruiert wurde. Es wurde ein neues Sportsystem bzw. die Steuerung dessen mit der Absicht konzipiert, erzieherischen Einfluss auf die (kommunistischen) Bürger auszuüben. Mannschaftstaugliche Sportarten galten als „Hauptsäulen einer breiten Sportbewegung“, doch wurde besonderes Gewicht auf den Leistungssport gelegt, auch um sich gegenüber dem Westen hervorzuheben. Kleinmanns untersucht Sportvereine anhand von Zeitungsartikeln, Festschriften etc., und fragt, welche Partizipationsmöglichkeiten Sportler und Funktionäre innerhalb der Sportvereine hatten.
REBECCA MENZEL (Potsdam) beschäftigt sich mit der Erscheinung der „Gammler“ in BRD und DDR von 1965-1967. Dabei stellt sie fest, dass die diskursiven und praktischen Handlungsräume der „Gammler“ im Westen größer waren als in der DDR, in der stärkere Ordnungsmechanismen wirkten und sich nur vereinzelte Individuen hervortaten. Die „Gammler“ provozierten mit ihrem Auftreten Diskussionen über die von ihnen abgelehnten Lebensordnungen in der Öffentlichkeit und entwickelten individuelle, voneinander unterschiedliche Strategien, um ihre Lebenswelt(en) an bestehende pluralistische Herrschaftssysteme anzupassen (wie in Bildungsinstitutionen). Sie grenzten sich vom tradierten sozialen Habitus ab und positionierten sich im sozialen Feld (selbst) neu, ohne aber eine homogene Gruppe zu bilden. Die Perspektive der „eigen-sinnig“ handelnden „Gammler“ macht einen sonst unsichtbaren Enkulturationsprozess sichtbar.
JAKUB SAWICKI (München) vergleicht den Fleischkonsum und Außer-Haus-Verzehr in der BRD, DDR und VRP 1965–1975. Mit seiner Untersuchung will er alltägliche Prozesse in Ost und West kontrastieren und untersuchen, welche Ursachen modernistische, system- oder kultur-traditionell bedingte Entwicklungen hatten, wie beispielsweise, dass Ende der 70er das „Abendbrot“ zu der einzigen gemeinsamen Mahlzeit innerhalb der Familie wurde. Neben Meinungsmachern in Frauenzeitschriften wurden Statistiken des Fleischkonsums herangezogen, wobei sich ein großes Gefälle zwischen BRD und VRP zeigt. Das Konzept des „Eigen-Sinn“ dient Sawicki dazu, die Aushandlungsprozesse zwischen Konsumenten und Entscheidungsträgern zu analysieren.
In ihrem Abschlusskommentar resümierte DAGMARA JAJEŚNIAK-QUAST (Frankfurt an der Oder), dass der Workshop nur zum Teil interdisziplinär war. Sie fragte, ob sich das Konzept für andere Disziplinen eigne und ob man auch mit quantitativen Methoden damit arbeiten könne. Sie betonte, dass es sich lohne, sich ausgehend von der Zäsur des Jahres 1989 damit zu befassen sowie den Eurozentrismus zu überwinden. Mit weiteren Fragen möchte sie die Teilnehmer anregen: Eignet sich dieses Konzept auch für (Post-) Transformationsländer (Ukraine, Sowjetunion)? Wie ist es gelungen, so große Massen von Frauen in ein diskriminierendes System der Erwerbsarbeit zu integrieren? Wo sind die Grenzen des Konzepts?
In der abschließenden Diskussion kristallisierte sich heraus, dass es nicht darum ginge, zu messen, wie viel oder wie wenig „Eigen-Sinn“ im Untersuchungsgegenstand vorhanden ist. Vielmehr gelte es, die Sinnzusammenhänge, die Individuen in ihrem Handlungskontext haben, ernst zu nehmen, was wiederum mehr als nur die Beschreibung der Herrschaftssteuerung sei. Herrschaft sei dabei nicht einseitig, denn die Beteiligten seien sich nämlich nicht nur ihres Abhängigkeitsverhältnisses bewusst, sondern auch ihrer Freiheiten. Die genaue Kenntnis der Verhältnisse erlaubt zu verstehen, wie Menschen versuchen, ihr Leben individuell und selbstbestimmt zu gestalten – oder auch nicht. Ferner hielten die Teilnehmer fest, dass "Eigen-Sinn" kein Widerstand sei, aber Widerstand "eigensinnig" sein könne. Widerstand als politisches Phänomen sei mit Eigensinnigkeit kaum erklärbar.
Anschließend wurde die Unterscheidung von „Eigen-Logik“, „Eigen-Sinn“ und „Eigen-Willigkeit“ diskutiert. Dabei wurde festgehalten, dass „Eigen-Sinn“ das Tun eines Subjekts und einen dem Tun abgewonnenen Sinn beschreibt, während „Eigen-Logik“ auf den untersuchten Bereich zielt. „Eigen-Willigkeit“ erklärt, wie Akteure abweichend handeln bzw. die Dinge unterlaufen, sich dabei aber stets absondern. „Eigen-Sinn“ beschreibt den kreativen Umgang des Individuums mit vorgefundenen Beschränkungen und dürfe nicht nur als eine Form der „Vielfalt“ gedeutet werden.
Das Konzept des „Eigen-Sinns“ kann dazu beitragen, das Spezifische im Allgemeinen zu finden und es von der Mikroperspektive auf die Makroperspektive zu übertragen. Den Nutzen und Sinn von „Eigen-Sinn“ sieht PATRICE POUTRUS (Wien) im methodischen Zugriff, sodass Herrschaft nicht nur aus top-down-Perspektive als eine Form der Interaktion zwischen „Oben“ und „Unten“ betrachtet werden könne. Es sei ein großes Missverständnis, dass es nur um die Gegenüberstellung von Herrschaft und Gesellschaft gehe – Wie erkläre man dann Konflikt und Stabilität zugleich? Tiefergehende Analysen erziele man fernab vom Dualismus und dadurch, dass man die Aussagen in einen komplexeren Zusammenhang führe. Die Kernfrage sei dabei: Was ist das Spezifische, was sich aus der historischen Situation erklären lässt? Poutrus appelliert an die Teilnehmer, den Mut zu haben, aus dem Feld deskriptiver Untersuchungen herauszutreten.